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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#151

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 07.02.2012 20:20
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

In diesen nun betrachteten Kapiteln will Heidegger auf die Sorge selbst hinaus und sie in ihrer ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen verdeutlichen. Heidegger geht nämlich davon aus, dass Sorge die Seinsverfassung des Daseins ist, im geworfenen Entwurf.
Er zieht dafür in § 42 eine schöne Fabel von Hyginus heran, die Cura-Fabel. Cura bedeutet Sorge.
Darin wird der Streit um das Gefäß Dasein oder Mensch verdeutlicht, das aus Erde geschaffen, mit Geist belebt, von der Sorge aber gemacht ist. Zwischen allen drei „Schöpfern“ entbrennt der Streit um das Gefäß, daher bekommt Jupiter, der es beseelt hat, den Geist im Tod, die Erde den Leib (vgl. Tellus, der Erdgott, weil er den Körper gegeben hat) und solange Dasein ist, gehört es der Sorge.

Zunächst muss Heidegger aber noch einmal auf die Befindlichkeit zurück, denn Angst oder sich ängstigen ist, wie bereits erwähnt, eine wesentliche Befindlichkeit des Daseins. Nur im Man findet Dasein Sicherheit. Die Flucht findet also hin zum Man statt, in die Vertrautheit. Weil Angst eine Grundbefindlichkeit ist, kann Dasein sich überhaupt fürchten, allerdings ist die Angst im Man eher selten, nur, wenn es auf sich selbst zurückgeworfen ist und frei über die Möglichkeiten entscheiden muss, kehrt die Angst zurück.

Um die Ganzheit des Strukturganzen zu verdeutlichen, muss die Sorge betrachtet werden.
Wir hatten gesehen: Angst ist als (191) „Befindlichkeit eine Weise des In-der-Welt-seins, das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein-können“. Im Gegensatz zur Furcht ist das Wovor und Worum der Angst verschmolzen, da das sie erfüllende Seiende immer das Dasein ist.
Die fundamentalen ontologischen Charaktere dieses Seienden sind Existenzialität, Faktizität und Verfallensein. In der Existenzialität liegt Zukunft, Dasein ist sich vorweg, in der Faktizität liegt die Vergangenheit, Dasein ist geworfen in die Welt und orientiert sich daran, und im Verfallensein, Dasein im Man, liegt die Gegenwart. Diese drei Bedingungen sind immer alle auf einmal da, wenn Dasein seine Möglichkeiten ist. Im Vorweg-sein ist Dasein immer über sich hinaus, sein Seinkönnen. Um sich vorweg sein zu können, muss Dasein in die Welt geworfen sein. Mit diesem Geworfensein zeigt sich die Angst, mit dem Dasein immer wieder aus dem Man auf sich selbst gewirbelt wird. Hier wird deutlich, dass mit dem vorweg-sein immer das Man-selbst gemeint ist.

Dasein blickt häufig im Man auf das zunächst Verfügbare. Damit schränkt es sich aber in seinen Möglichkeiten ein, gleichzeitig wird die Wahl einfacher.
Heidegger zeigt, dass Wollen, Wünschen, Hang und Drang in der Sorge verwurzelt sind. Wollen braucht ein Gewolltes. Sorge als Wollen deutet bereits Ganzheit an, da etwas zu wollen (in die Zukunft springt), sich vorweg ist, in die Vergangenheit blickt (was gibt es an Besorgbarem und was gibt es zu wollen?) und der Entwurf selbst auf ein Seinkönnen hinzielt. Wünschen geht dagegen auf Unerfüllbares hinaus. Im Wunsch verweilt man im Da, ohne sich festzulegen. Der Augenblick des Wünschen ist dabei wichtiger als das Vorweg-Sein, die Möglichkeiten verschließen sich eher, als dass sie sich öffnen. Der Hang ist durch ein passives Gelebt-Werden charakterisiert, es wird etwas nachgehangen, während hingegen der Drang Antrieb ist.
Sorge ist die Ganzheit des Strukturganzen der Daseinsverfassung. In ihr liegt das Sein des Daseins beschlossen. Die Verfassung der Existenz als Sorge zeigt sich in Existenzialität, Faktizität und Verfallensein.

§43 Hier wird die Realität hinterfragt, und zwar deutet Heidegger schon an, ob die Frage nach einer Außenwelt überhaupt sinnvoll ist. Die Frage, ob es Welt gibt, ist für das Dasein, das ja in der Welt ist, völlig sinnlos. Natürlich muss er hier auf Kant mit seinem Ding an sich zurückkommen. Kant sagte, dass die Welt Erscheinung ist, das Ding an sich der Mensch nicht erfassen kann. So setzt er voraus, dass das Außen, also das Ding an sich, zwar vorhanden ist, ohne es tatsächlich beweisen zu können, da auch er Mensch ist und alles als Erscheinung wahrnimmt. Das Ding an sich ist nie sichtbar und ist daher auch nur eine "Annahme".
Damit hat Kant also das Ding an sich lediglich festgelegt, während es nur Spekulation bleibt. Genauso gut hätte er es gar nicht erst voraussetzen müssen und wäre auf dasselbe Ergebnis gekommen. Für Dasein spielt das Ding an sich keine Rolle, da Dasein es eben nie erkennen kann und wenn es nicht ist, kann das Ding an sich eben auch durch nichts erkannt werden, denn da ist ja nichts, das darauf blickt.
Heidegger betont noch einmal: (212) Nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins, ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.

§44
Wahrheit und Sein wurden immer als das Gleiche betrachtet.
Um der Wahrheit - als sie selbst - näher zu kommen, muss herausgefunden werden, was das Wesen, die Seinsart der Wahrheit ist, muss überprüft werden, ob es Wahrheit gibt und falls das so ist, warum vorausgesetzt werden muss, dass es Wahrheit gibt.

a) Drei Thesen gibt es von der Auffassung des Wesens der Wahrheit:

1) Der Ort der Wahrheit ist die Aussage, das Urteil.
2) Das Wesen der Wahrheit liegt in der „Übereinstimmung“ des Urteils mit seinem Gegenstand.
3) Beide Thesen treffen zu (vgl. Aristoteles: Logos ist die Seinsweise des Daseins, die entdeckend oder verdeckend sein kann.)

Heidegger kommt zu dem Schluss, dass Wahrheit, also Wahrsein entdeckend-sein muss. "Das Wahrsein ist Seiendes aus der Verborgenheit herausnehmend in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit*) sehen lassen." Wahrheit ist Entdeckung, also Erschlossenheit.
(221) Sofern Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist, als erschlossenes erschließt und entdeckt, ist etwas wesenhaft „wahr“.

b) Eine Aussage gilt dann als wahr, wenn sie einer Tatsache entspricht. Da aber zwischen Aussage und Tatsache gar keine Wechselbeziehung besteht, ist dieser Satz für Heidegger nicht richtig. Die Aussage ist lediglich Vorhandenes, ein Konstrukt.
Wenn wir sagen „Der Hammer ist schwer“, dann haben wir eine wahre Aussage. Wenn ein anderer sagt: „Nein, der Hammer ist nicht schwer!“, dann liegt einer von beiden falsch, da aber beide wissen, dass es den Hammer in der Welt in seiner Zuhandenheit gibt und was Schwere ist, bewegen sie sich in der Wahrheit (Sein ist bei innerweltlich Seiendem).
So zeigt Heidegger auch, dass Punkt 1 der drei Thesen nicht richtig ist, sondern sich umgekehrt verhält. Nicht die Aussage ist der Ort der Wahrheit, sondern die Wahrheit ist der Ort der Aussage (oder bezeigt, ob Aussagen wahr oder falsch, damit entdeckend oder verdeckend sind).

Die Welt wird nicht durch Aussagen erschlossen, sondern durch Stimmung und Verstehen, und damit ist das Dasein der vorrangige Ort der Wahrheit. Dasein ist in der Wahrheit, sofern es erschlossen ist.
Genauer haben wir gesehen: Die Seinsverfassung des Daseins ist der Entwurf, das erschließende Sein zum Seinkönnen. Dasein kann sich aus dem Man und der Welt her verstehen oder aber aus dem eigenen Seinkönnen. (221) Diese eigentliche Erschlossenheit zeigt das Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit im Modus der Eigentlichkeit.
Das ist kurz gesagt: die Wahrheit der Existenz. Gegenüber dem ist das Dasein im Man verstellt, daher befindet es sich in der Unwahrheit. Da Dasein aber hauptsächlich verfallen ist, ist Dasein sowohl in der Wahrheit und in der Unwahrheit. Wahrheit muss dem Dasein immer erst abgerungen werden. Das Entdeckte muss Dasein sich gegen den Schein erst zueignen.

Auch Wahrheit ist also ein Existenzial von Dasein. Ohne Dasein keine Wahrheit.


c) Die Seinsart der Wahrheit ist nicht zu zeigen, ob etwas richtig oder falsch war, bevor etwas neu Geltendes geschaffen wurde (siehe Newtons Gesetze), sondern verweist lediglich darauf, was vorher galt und immer schon war (macht also sichtbar).

Ob es ewige Wahrheit gibt, kann also auch solange nicht geklärt werden, solange nicht der Nachweis erbracht wurde, dass Dasein schon immer war und immer sein wird.
Alle Wahrheit ist relativ auf das Sein des Daseins.


Wahrheit voraussetzen meint dann, sie verstehen als etwas, worumwillen das Dasein ist. Weil zum Sein des Daseins dieses Sichvoraussetzen gehört, müssen „wir“ auch „uns“ als durch Erschlossenheit bestimmt voraussetzen. Das „es gibt“ hat die Seinsart des Daseins selbst. Wir müssen die Wahrheit also voraussetzen, sofern Dasein überhaupt ist.

Und hier kommen wir dem Sein wieder ein Stück weit näher: Sein kann nur aufgrund von Seinsverständnis verstanden werden. Sein – nicht Seiendes – „gibt es“ nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist.

----------------------
* (220) Entdecken ist eine Seinsweise des In-der-Welt-seins. Das umsichtige oder auch das verweilend hinsehende Besorgen entdecken innerwelches Seiendes. Dieses wird das Entdeckende. Dasein ist entdeckt, damit wahr. Wahrheit ist nicht Entdeckend-sein (Entdeckung), sondern Entdeckt-sein (Entdecktheit).




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 08.02.2012 03:42 | nach oben springen

#152

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 07.02.2012 21:43
von Roquairol • 1.072 Beiträge

So, § 40:

Wie im vorigen § angekündigt, sucht Heidegger eine Befindlichkeit, die über das Dasein als solches Aufschluß geben kann. Er glaubt, diese ausgezeichnete Befindlichkeit mit der Angst gefunden zu haben.

Bei der folgenden Analyse der Angst hält sich Heidegger eng an Kierkegaard, dessen Buch "Der Begriff Angst" auch am Ende des § in einer Fußnote erwähnt wird. Zunächst wird "Angst" unterschieden von "Furcht". Die Furcht fürchtet sich jeweils vor einem konkreten innerweltlichem Seiendem, also einem Ding, einem Tier, einer Katastrophe o.ä. Die Angst dagegen wird gerade nicht durch ein Seiendes ausgelöst: "Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches." Wem das sehr unbestimmt vorkommt, der ist auf der richtigen Spur, denn das Wovor der Angst ist in der Tat völlig unbestimmt, und mehr noch: Es ist das Nichts. Allerdings kein totales Nichts, sondern das In-der-Welt-sein als eine unbestimmte Leere. Dadurch wird schon eine Besonderheit der Angst deutlich, denn diese Befindlichkeit erschließt Welt unmittelbar als Welt (und nicht innerweltlich Seiendes).

Aber nicht nur das Wovor der Angst, sondern auch das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein. Das Dasein ängstigt sich um sein In-der-Welt-sein. In der Angst erschließt sich dem Dasein sein Möglichsein und seine Freiheit. (Dies wird übrigens bei Kierkegaard wesentlich breiter erläutert, da heißt es ganz klar Angst = Freiheit und Freiheit = Angst.)

In der Angst erblickt also das Dasein sich selbst als In-der-Welt-sein. Dies macht die Angst zu der ausgezeichneten Befindlichkeit, in der das Dasein über sich selbst Aufschluß gewinnt.

"In der Angst ist einem unheimlich." Wie das Wort un-heim-lich schon zeigt, steckt in der Unheimlichkeit ein Nicht-zuhause-sein. Und wo ist das Dasein zuhause? Natürlich in der Welt. Schon in § 12 wurde das "In-sein" als "Wohnen bei" und "Vertrautsein mit" beschrieben. In der Angst bricht nun diese Vertrautheit zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, obwohl es weiterhin In-der-Welt-sein ist. Es kommt so in den existenzialen Modus des "Un-Zuhause" - ihm ist "unheimlich".
Auf diese Weise wird nun auch das im vorigen Kapitel besprochene Verfallen klarer. Das Verfallen ist eine Flucht in die Welt, eine Flucht zum Man, aber wovor wird hier geflohen? Eben vor dieser Unheimlichkeit. "Diese Unheimlichkeit setzt dem Dasein ständig nach und bedroht, wenngleich unausdrücklich, seine alltägliche Verlorenheit in das Man."

Angst und Unheimlichkeit bilden den ständigen Hintergrund, vor dem das Dasein in das Man flieht. Damit sind sie die ursprünglicheren Phänomene: "Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden."

Davon ausgehend bezeichnet Heidegger jetzt die Furcht als eine an die Welt verfallene, uneigentliche Angst.

Angst im eigentlichen Sinne ist selten - meist ist sie dann "physiologisch bedingt" (Heidegger meint hier wohl psychische Störungen wie Angstneurosen usw.); dies ist für Heidegger nicht die eigentliche existenzielle Angst, aber auch solche Störungen sind nur möglich, "weil das Dasein im Grunde seines Seins sich ängstet."

Die Angst bietet eine außergewöhnliche Möglichkeit zur Daseins-Erkenntnis, "weil sie vereinzelt", d.h. das Dasein auf sich selbst zurückwirft (durch die Unheimlichkeit). "Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar." - Also durch die Vereinzelung, die mich von der "Welt" trennt, werde ich aus dem Verfallen zurückgeholt. Ich habe nun die Möglichkeit, mich entweder auf die Eigentlichkeit zu besinnen, oder aber erneut in die Uneigentlichkeit und das Verfallen zu fliehen.

Soweit meine Zusammenfassung von § 40.




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#153

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 09.03.2012 14:05
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ich mache etwas mit Heidegger weiter. Erst einmal sehr verkürzt:

Zweiter Abschnitt
§ 45 – Dasein und Zeitlichkeit


Ob wir das Dasein und damit das Sein im Ganzen tatsächlich erfasst haben, wird hier von Heidegger in Frage gestellt. Wir haben das Dasein in seinem Seinkönnen immer nur als uneigentliches Sein und damit nicht ganzes Dasein gesehen.
Wir wissen: Die Alltäglichkeit ist Sein zwischen Geburt und Tod. Bisher haben wir nur Geburt als Geworfensein in die Welt gesehen und das andeutungsweise Vorschnellen in die Zukunft als ein Setzen von Zielen und Handlungen und Seinkönnen, als die Existenzialität.

Aber Seiendes, dessen Essenz die Existenz ausmacht, widersetzt sich wesenhaft der möglichen Erfassung seiner als ganzes Seiendes.
Es verdrängt also häufig seinen Tod.

Im Dasein steht immer noch etwas aus, was es noch sein kann und wird. Dazu gehört das Ende. Das Ende von In-der-Welt-sein ist der Tod. Dieses Ende und das Wissen, dass wir sterben, lässt uns so agieren, wie wir es tun und begrenzt unser Leben. Durch den Tod wird das Dasein zum Ganzen. Daseinsmäßig ist Tod Sein zum Tode. Dasein wird eigentliches Seinkönnen durch Gewissen.

Das eigentliche Ganzseinkönnen wird im Modus der Sorge sichtbar.
Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des Daseins ist die Zeitlichkeit. Gerade die Alltäglichkeit enthüllt sich als Zeitlichkeit, jene alltäglich-vulgäre Zeit, alles im Nacheinander zu betrachten, in Zeitpunkten, Sekunden, Minuten, Stunden…
Zeitlichkeit bedingt, dass Dasein im Grunde seines Seins geschichtlich ist.
Sorge braucht Zeit und rechnet mit der Zeit.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.03.2012 14:13 | nach oben springen

#154

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 10.03.2012 13:06
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Ich hinke noch etwas hinterher ...

§ 41
Am Anfang finden wir eine hilfreiche Zusammenfassung zur Angst:
Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-der-Welt-seins;
das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein;
das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein-können.
Am Phänomen der Angst zeigt sich damit das Dasein als faktisch existierendes In-der-Welt-sein mit den fundamentalontologischen Charakteren der Existenzialität, Faktizität und Verfallensein.
Diese Chararaktere gehören zu einer Einheit, nach deren genauer Bestimmung Heidegger jetzt fragt. Diese Einheit ist die Sorge.

Heidegger bestimmt die Sorge als "Sich-vorweg-im-schon-sein-in-einer-Welt". Dies ist ein zentraler Gedanke von "Sein und Zeit", deshalb sollten wir hierbei verweilen, bis er gründlich verstanden wurde. Das Dasein ist sich selbst in seinem Sein immer schon "vorweg". D.h., ich bin mit meinen Gedanken nicht da, wo ich als raumzeitliches Wesen eigentlich bin, sondern ich bin mir in der Regel immer schon voraus, und denke daran, was ich in einer Minute, in einer Stunde oder in einem Jahr tun werde. Dies nennt Heidegger das "Sich-vorweg-sein".

Nun hatten wir früher schon längst festgestellt, daß Dasein immer schon In-der-Welt-sein ist. Dies widerspricht sich nicht mit dem Sich-vorweg-sein, vielmehr bilden die beiden Begriffe eine Einheit, nämlich das "Sich-vorweg-im-schon-sein-in-einer-Welt". Also das Dasein ist schon in einer Welt, ist sich darin aber selbst vorweg.

Diese Charakterisierung des Daseins wäre unvollständig ohne das Verfallen an das innerweltlich Seiende. Deshalb kommt noch hinzu das "Sein bei" (nämlich beim innerweltlich Zuhandenem).
Damit haben wir die Sorge vollständig charakterisiert als Sich-vorweg-schon-sein-in-der-Welt als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).




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#155

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 10.03.2012 16:26
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Es begab sich an dieser Stelle in der alten Leserunde eine interessante Diskussion zwischen dem User Prometheus und mir.

Prometheus:

Zitat
Ich verstehe Heidegger hier eben nicht so, dass wir mit unseren Gedanken und Plänen immer schon in der Zukunft - also vorweg - sind.

SONDERN: "Vorweg" deshalb, weil im Dasein ein "Seinkönnen" ist, dass unabänderlich ist. das Seinkönnen ist somit vorher schon gegeben (z.B. auf Grund von handwerklicher Unbegabtheit, werden mir entsprechende Berufe versagt bleiben. Der handwerkliche Beruf gehört somit nicht zu meinem Seinkönnen). Und auf Basis dieses Seinkönnen entwerfern wir unser Sein...



Roq:

Zitat
Zitat:
SONDERN: "Vorweg" deshalb, weil im Dasein ein "Seinkönnen" ist, dass unabänderlich ist.
Dazu Heidegger: "Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten." (S. 193 Mitte)

Bei Heidegger ist also gerade keine Rede von Unabänderlichkeit, sondern im Gegenteil von Freiheit.

Zitat:
z.B. auf Grund von handwerklicher Unbegabtheit, werden mir entsprechende Berufe versagt bleiben. Der handwerkliche Beruf gehört somit nicht zu meinem Seinkönnen
Hier geht es jetzt nur um das Nicht-Seinkönnen. Meinst du in der Umkehrung davon, das Dasein hätte nur ein "Seinkönnen", auf das es unabänderlich festgelegt wäre? Aber das Seinkönnen ist ja gerade ein Entwerfen auf Möglichkeiten. "Können" bedeutet hier nicht ein Können im Sinne von Fähigkeit, sondern ein Können im Sinne von "nicht müssen". Das Seinkönnen legt mich nicht unabänderlich auf eine Tätigkeit fest (z.B. philosophieren), sondern eröffnet mir gerade verschiedene Möglichkeiten außerdem (Schokolade essen, Katzen füttern ...)

Deshalb gibt es auch den ontologischen Zusammenhang des Seinkönnens mit dem Wollen und Wünschen (S.194). "Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen."
Und das Wollen bedeutet für mich durchaus, "dass wir mit unseren Gedanken und Plänen immer schon in der Zukunft - also vorweg - sind." Das Wollen strebt notwendigerweise in die Zukunft - warum sollte ich etwas wollen, was jetzt in der Gegenwart schon verwirklicht ist? So zeigt sich im Wollen, daß das Dasein "vorweg" (in die Zukunft) ist.
Das gilt ebenso für das Wünschen, das nach Heidegger ein verfallenes Wollen ist.



Prometheus:

Zitat
Zitat:
Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten
Dem stimme ich zu. Aber diese Möglichkeiten bewegen sich in meinem eigensten Seinkönnen. Mein Seinkönnen ist ein anderes als Deines. Mein Seinkönnen ist der Rahmen in dem ich natürlich frei in meinen Entscheidungen bin.

Somit ist das Seinkönnen (=eigentliche und uneigentliche Möglichkeiten) der Entscheidungsrahmen, der vorweg gegeben ist.
Beispiel: in meinem Seinkönnen liegt die Möglichkeit, hier zu schreiben, und ich habe mich dafür entschieden. Ich hätte aber auch einen Kunden anrufen können, habe ich aber nicht. In meinem Seinkönnen liegt nicht in der nächsten Stunde mit meinem Hund zu spielen, weil ich auf der Arbeit bin und mein Hund zu Hause...und somit sind meine Möglichkeiten vorher gegeben...

Natürlich bestreite ich nicht dass das Denken in die Zukunft gerichtet ist und natürlich auch das Wollen...

Zitat:
Das Wollen strebt notwendigerweise in die Zukunft
Dem stimme ich absolut zu...

Vielleicht gibt es ja noch eine endgültig klärende Aussage zu "vorweg" ???



Roq:

Zitat
Wir haben also zwei verschiedene Interpretationen des "Vorweg":

Das prometheische Vorweg geht von der Vergangenheit aus und bestimmt von dort aus die jeweiligen Möglichkeiten des Daseins. (Ist das so richtig dargestellt?) Das Seinkönnen ist dadurch "vorweg festgelegt".

Das roquairolsche Vorweg entwirft von der Gegenwart aus Möglichkeiten in die Zukunft. Das Dasein nimmt diese Möglichkeiten "vorweg".

Fragt sich also nun, was das heideggersche Vorweg ist ...

Zitat: "Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg. Dasein ist immer schon 'über sich hinaus', nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des wesenhaften 'es geht um ...' fassen wir als das Sich-vorweg-sein des Daseins."

In diesem Zitat möchte ich besonders "nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist" unterstreichen. Der prometheische Hund wäre aber gerade so ein anderes Seiendes. Es kann im Vorweg-sein also gerade nicht um Prometheus' Verhalten zu seinem Hund gehen! Aber worum dann? Um "das Sein zum Seinkönnen, das es (das Dasein) selbst ist." Also das Seinkönnen ist das Dasein selbst! Vergleichen wir dies mit:
Zitat:
Mein Seinkönnen ist der Rahmen in dem ich natürlich frei in meinen Entscheidungen bin.

Das passt nicht zusammen. Das Seinkönnen kann nicht einerseits das Dasein selbst sein und gleichzeitig der Rahmen, in dem dieses Dasein sich bewegt. Also ist das Seinkönnen kein Rahmen - der Rahmen ist vielmehr die Welt mit den Notwendigkeiten des innerweltlich Seienden. Das Seinkönnen ist das Dasein selbst, das in der Welt ist. Zitat:
"Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist." (S.143)
Die Fortsetzung macht deutlich, daß alle unsere oben verwendeten Beispiele in die Irre führen:
"Als modale Kategorie der Vorhandenheit bedeutet Möglichkeit das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige." Genau darauf haben wir mit Beispielen wie "Schokolade essen" oder "mit Hund spielen" abgezielt. Das ist aber nicht das, was Heidegger meint! Sondern er meint "die Möglichkeit als Existenzial": "Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen." Es geht also letztlich um die Freiheit, sich für das Verfallen oder für das eigentliche Sein zu entscheiden.

Aber auch im Verfallen bleibt das Dasein "sich vorweg":
"Auch in der Uneigentlichkeit bleibt das Dasein wesenhaft Sich-vorweg" (S.193 75%)
Und damit kommen doch noch unsere trivialen Möglichkeiten ins Spiel, an denen sich das Sich-vorweg zumindest in gewisser Weise verdeutlichen läßt. Das Wollen strebt nach der Verwirklichung solcher Möglichkeiten:
"Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen."
Das Dasein entwirft sich auf eine Möglichkeit:

Dasein ----> Möglichkeit

Und genau deshalb ist es nicht "bei sich", sondern ist "sich vorweg".

Nach Prometheus Interpretation wäre ja gerade nicht das Dasein "vorweg", sondern das innerweltlich Seiende, das dem Dasein die Grenzen seiner Möglichkeiten aufzeigen.



Prometheus:

Zitat
Zitat:
In diesem Zitat möchte ich besonders "nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist" unterstreichen. Der prometheische Hund wäre aber gerade so ein anderes Seiendes.
Zitat:
Also das Seinkönnen ist das Dasein selbst!
O.K. das bringt mich Deinem "Vorweg" nahe.

Zitat:
Und genau deshalb ist es nicht "bei sich", sondern ist "sich vorweg".
ALSO:...IN DIE ZUKUNFT GERICHTET...




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#156

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.03.2012 13:50
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Was ich an Prometheus' Gedanken nicht ganz nachvollziehen kann, ist das "Vorweg" in Bezug auf das reine Seinkönnen. Im Sinne: was wir sein können, das steht fest. Du hast es zwar gut zusammengefasst, als aus der Vergangenheit Feststehendes "Vorweg", aber im Grunde ist es dann doch eigentlich kein Vorweg mehr, sondern eine Art Voraussetzung, wie Dasein aufgrund seiner Möglichkeiten zu sein hat. Aber die Möglichkeiten stehen ja nun einmal nicht fest oder sind begrenzt, in einen bestimmten Rahmen gefasst. Wir entwerfen unser Sein zwar durchaus in den Möglichkeiten unseres Seinkönnens, aber wir sind uns in dieser Beziehung noch nicht vorweg, (eher ganz im Gegenteil, wären wir ja festgefahren, wenn wir unser Seinkönnen auf das reduzieren, was wir als Begabung voraussetzen oder nicht), sondern nehmen doch eher das Gegebene als Ausgangspunkt. Trotzdem können wir nicht wissen, was an Möglichkeiten für uns bereit steht, unabhängig von Voraussetzungen, Begabung oder anderes. Auch ist handwerkliche Unbegabung noch kein Grund, einen Beruf gar nicht erst zu wählen, manche Menschen haben gar keine Wahl und nehmen, was sie kriegen können, um es dann eben nach und nach zu erlernen. Selbst da ist das Seinkönnen noch nicht festgelegt.
Ich glaube auch nicht, dass es überhaupt ein Seinkönnen gibt, dass unabänderlich ist, denn gerade durch die Seinsmöglichkeiten kann das Dasein immer wieder neue Entscheidungen treffen und über sein Seinkönnen bestimmen. Es muss oder ist dabei aber nicht festgelegt, schon gar nicht unabänderlich an irgendetwas gebunden. Ein Sich-vorweg-sein kann doch nur in der Zukunft angesetzt sein, also in diese vorschnellen, um das Jetzt zu gestalten, denn jeder Plan, jede Vorstellung, jeder neue Schritt muss ja durch eine Möglichkeit (oder mehrere) bestimmt werden, um diesen Schritt dann erst gehen zu können oder den Wunsch bzw. das Wollen erst zu verspüren. Der Moment, die Gegenwart bietet ja noch nicht das, was wir wollen oder uns wünschen. Wir müssen also kurz voraus sein, um uns vorstellen zu können, was als Nächstes geschehen könnte. Gleiches gilt ja auch für die Vorstellung und das Wissen darüber, dass wir irgendwann sterben werden. Das Wissen des Todes in er Zukunft. Ohne dieses Vorweg-Sein könnten wir das Leben niemals als begrenzt und daher wertvoll anerkennen. Wir würden vielleicht keine Pläne machen, vielleicht nicht einmal handeln oder unser Wollen bestimmen, wenn wir nicht wüssten, dass es irgendwann bzw. jederzeit zu Ende gehen kann.

Zitat von Roq
Das Seinkönnen legt mich nicht unabänderlich auf eine Tätigkeit fest (z.B. philosophieren), sondern eröffnet mir gerade verschiedene Möglichkeiten außerdem (Schokolade essen, Katzen füttern ...)


... und auch nicht nur für den Moment, sondern in Möglichkeiten über den Jetzt-Moment hinaus, durch Wunschvorstellung, Plan, Wille zu Veränderung und anderes. Ich kann ja während ich philosophiere, Schokolade esse und die Katze füttere, mir überlegen, was ich für mein Leben demnächst plane und mir wünsche, wie der nächste Tag sich gestalten könnte, was ich zu erledigen habe usw.

Da Dasein immer Sorge ist, wird es sich gerade auch aus dem Grund, besorgen zu müssen (es steht ja nie still), sowieso vorweg sein (müssen), denn das Besorgen ist ja niemals orientierungslos, zumindest nicht, wenn man bestimmt, wie die Schritte zu dieser Handlung zu gestalten sind oder wenn man sich überlegt, welche Schritte für einen Wunsch und ein Wollen notwendig sind, um eine nächste Handlung zu vollziehen. Das ist immer Zukunft und die Möglichkeiten, die Dasein hat, ist dann, wie du ja auch gesagt hast, Freiheit, nicht Feststehendes oder Unabänderliches.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.03.2012 14:04 | nach oben springen

#157

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 24.03.2012 18:10
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zu § 42:
Nachdem nun die Sorge als Sein das Dasein herausgestellt worden ist, will Heidegger Einwänden zuvorkommen, daß diese Daseinsanalyse nur seiner eigenen Willkür entsprungen sei. Er führt deshalb ein "vorontologisches Zeugnis" an, eine lateinische Fabel, die in den Werken des Hyginus überliefert ist. Diese Fabel "soll deutlich machen, daß die existenziale Interpretation keine Erfindung ist, sondern als ontologische 'Konstruktion' ihren Boden und mit diesem ihre elementaren Vorzeichnungen hat."

In der Fabel wird der Mensch von der "Sorge" (cura) aus Ton geformt, Jupiter verleiht ihm den Geist. Als dann die Sorge, Jupiter und die Erde darüber streiten, wer das Wesen benennen darf, entscheidet die Zeit (Saturn): Nach dem Tod empfängt Jupiter den Geist, die Erde den Körper, aber solange es lebt, soll "die Sorge" das Wesen besitzen.

In der Tat kann man hier die heideggersche Philosophie in ihrem Kern wiederfinden: Die Sorge als Ursprung des Daseins, und bemerkenswert ist die herausragende Rolle der "Zeit", die über das Sein des Menschen entscheidet. "Die in der Fabel ausgedrückte vorontologische Wesensbestimmung des Menschen hat sonach im vorhinein die Seinsart in den Blick genommen, die seinen zeitlichen Wandel in der Welt durchherrscht."

Der Begriff cura/Sorge hat einen doppelten Sinn: 1. "ängstliche Bemühung; 2. "Sorgfalt", "Hingabe". Demzufolge leistet die Sorge bei Heidegger auch zweierlei:
1. das Werden zu dem, was der Mensch "in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann";
2. die Bestimmung der Grundart des Daseins, "gemäß der es an die besorgte Welt ausgeliefert ist (Geworfenheit)".
Dies sind nicht zwei voneinander getrennte "Dinge", sondern nur zwei verschiedene Aspekte eines "Dinges", der Sorge.

Wichtig ist noch, festzuhalten, daß diese existenzial-ontologische Interpretation keineswegs aus einer ontischen Verallgemeinerung entspringt ("das Verhalten aller Menschen ist sorgenvoll"). Es geht Heidegger nicht um "ständig auftretende ontische Eigenschaften", sondern um die ihnen "zugrunde liegende Seinsverfassung".


Zu § 43:

Hier geht es nun um das traditionelle philosophische Problem der Realität, also um die Frage, ob die "Welt" überhaupt "real" ist. Für Heidegger ist diese Frage sinnlos: "Die Frage, ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden könne, ist als Frage, die das Dasein als In-der-Welt-sein stellt - und wer anders sollte sie stellen? - ohne Sinn." (S. 202 80%)
Wir könnten nur sinnvollerweise nach der Realität der Welt fragen, wenn die Welt etwas vom Dasein isoliertes wäre. Das ist es aber nicht, da das Dasein In-der-Welt-sein ist und damit die Welt immer schon voraussetzt.

Hinzu kommt, daß die "Welt" in dieser Frage ontologisch völlig ungeklärt bleibt. Das "Weltphänomen als solches" muß zunächst hinterfragt werden.

Kant betrachtete es als "Skandal", daß es keinen Beweis für das "Dasein der Dinge außer uns" gäbe ("Dasein" hier nicht im Sinne Heideggers, sondern nur als Vorhandensein verstanden). Kant selbst unternahm den Versuch eines solchen Beweises, und zwar folgendermaßen:
Zum Wesen der Zeit gehört gleichursprünglich Wechsel und Beharrlichkeit. Also einerseits Wechsel, Bewegung, sonst wäre alles starr und zeitlos. Andererseits aber auch etwas Beharrliches, Konstantes, sonst wäre alles nur ein formloses Fließen. Zeit wird also erlebt, wenn Konstantes und Wechselhaftes zusammen ("gleichzeitig") erfahren werden. - Das Wechselhafte haben wir in seiner einfachsten Form schon in uns, nämlich den Wechsel von Vorstellungen (Gedanken). Wo ist nun das Konstante? Es kann nicht auch "in uns" sein, weil unser Dasein in der Zeit überhaupt erst bestimmt werden kann, wenn es dieses Konstante schon gibt, es muß also "außer uns" sein.

Nun ist Heidegger mit diesem Beweis alles andere als zufrieden. Bewiesen wird nur das gleichzeitige Vorhandensein von etwas "in mir" und etwas "außer mir", aber es wird kein wesentlicher Zusammenhang dazwischen hergestellt: "Das Zusammenvorhandensein von Physischem und Psychischem ist ontisch und ontologisch völlig verschieden vom Phänomen des In-der-Welt-seins." (S. 204)
Im übrigen besteht für Heidegger der "Skandal" nicht darin, daß es keinen Beweis für die Realität der Außenwelt gebe, sondern "darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden." (S. 205) Sie scheitern dann notwendigerweise, weil die "Seinsart des beweisenden und beweisheischenden Seienden" unterbestimmt ist. Also weil das Dasein als isoliertes "Subjekt" gesehen wird, und nicht als In-der-Welt-sein.

Die Lösung des "Problems" besteht darin, zu erkennen, daß das Dasein, das die Frage nach der Realität der Welt stellt, schon bevor es diese Frage stellt, und damit es diese Frage überhaupt stellen kann, notwendigerweise schon in der Welt ist. "'Früher' als jede daseinsmäßige Voraussetzung und Verhaltung ist das 'Apriori' der Seinsverfassung in der Seinsart der Sorge."

Vor vielen Jahren führte ich mit einem Freund mal eine Diskussion über eben jene Frage nach der Realität der Außenwelt. Irgendwann bekam er dann Hunger, und nachdem ich ihm einen Teller Suppe und Brot "besorgt" hatte, beendete ich die Diskussion mit dem Satz: "Dein Hunger ist der Beweis für die Realität der Suppe."

Heidegger findet die philosophiegeschichtlichen Strömungen des Realismus und des Idealismus gleichermaßen verfehlt. Der Realismus, der davon ausgeht, daß die "Außenwelt" unabhängig vom "Subjekt" vollkommen "real" ist, reduziert alles auf bloße Vorhandenheit und hat keinerlei Verständnis für das Dasein überhaupt. Die ontologische Differenz, also der Unterschied zwischen "Sein" und "Seiendem", kann so nie begriffen werden. Der Idealismus, der die alleinige Realität in das Subjekt legt, hat hier schon bessere Voraussetzungen, aber er geht wiederum darin in die Irre, daß er das "Subjekt" von der "Außenwelt" trennen will; er versteht nicht, daß das Dasein immer schon in der Welt ist.




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#158

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 13.04.2012 21:14
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Weitere Anmerkungen zu § 43:
Dilthey und Scheler brauchen wir hier nicht zu vertiefen. Dilthey wollte die Realität als Widerstand erklären. Also ich will irgendetwas, strebe etwas an, und stoße dann auf Widerstand: Dann ist dieser Widerstand eindeutig real; es wäre absurd, wenn ich behaupten würde, er läge nur in meinem Bewußtsein.
Für Heidegger geht diese Erklärung aber nicht weit genug, sie erfaßt nur Teilbereiche des Seins. Widerstand setzt die Erfahrung der Welt voraus. Trieb und Wille sind wiederum nur Modifikationen der Sorge.

Wichtig ist der letzte Absatz in Abschnitt b) auf S. 211, in dem Heidegger sich noch einmal mit Descartes auseinandersetzt, denn Descartes ist gewissermaßen der Ur-Vater des Solipsismus. Mit seinem "cogito ergo sum", "ich denke, also bin ich", setzt er das Ich, unabhängig von der Welt, an den Anfang der Philosophie. Heidegger sagt nun, daß dieser Satz umgekehrt werden müsse: Nicht das Cogito, das Denken, müsse an den Anfang gestellt werden, sondern "sum", das Sein, und zwar Sein verstanden als "Ich-bin-in-einer-Welt". Für Descartes gibt es zunächst ein Denken, und in diesem Denken dann ein Ich als weltloses Denk-Ding - dies ist jedoch falsch.

In "c) Realität und Sorge" wird zunächst die Bedeutung des Begriffes "Realität" klargestellt als "Sein im Sinne der puren Dingvorhandenheit". Damit wird auch deutlich, daß die Naturwissenschaften nur am Rande von dieser Frage berührt werden, dann da geht es ja im Theorien. Ich kann fragen, ob die Urknalltheorie wahr oder falsch sei (darum wird es dann in § 44 gehen), aber es ergibt keinen Sinn, zu fragen, ob sie "real" sei, denn eine Theorie ist ja kein Ding. Auch die Frage, ob ein UFO "real" sei, ist eigentlich nicht korrekt, denn auch wenn es nur ein neues amerikanisches Geheimflugzeug ist, bleibt es doch als physikalisches Phänomen real - nur die Theorie, dieses Phänomen sei ein UFO, ist falsch.

Jetzt kommen wir zu der Frage, ob es Sein auch ohne Dasein gibt.
Heidegger: "Daß Realität ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, daß Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert." (S. 211f.)
Also Heidegger unterscheidet zwischen der Realität und Realem. Realität ist eine Seinsweise, eben die Seinsweise der puren Dingvorhandenheit, Reales sind dagegen die einzelnen, real vorhandenen Dinge. Diese einzelnen realen Dinge, sagt Heidegger ganz klar, sind nicht abhängig von der Existenz des Daseins.
Doch nun kommt das große Aber:
"Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, 'gibt es' Sein."
Hier sind wir also wieder bei der ontologischen Differenz, der Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem. Das Seiende ist vom Dasein unabhängig. Das Sein allerdings beruht auf dem Seinsverständnis - und das gibt es nur im Dasein!
Ohne Dasein "kann weder gesagt werden, daß Seiendes sei, noch daß es nicht sei. Es kann jetzt wohl, solange Seinsverständnis ist und damit Verständnis von Vorhandenheit, gesagt werden, daß dann Seiendes noch weiterhin sein wird."

Am Ende fasst Heidegger noch einmal klar zusammen: "nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins, ist Seinsverständnis als Seiendes möglich."




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#159

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 13.04.2012 21:45
von Roquairol • 1.072 Beiträge

§ 44
Wir kommen hier zum Begriff der Wahrheit, der in Heideggers Philosophie eine große Bedeutung hat, die sich nach "Sein und Zeit" noch verstärken wird: Eine wichtige spätere Schrift trägt z.B. den Titel "Vom Wesen der Wahrheit".

Zunächst stellt Heidegger fest, daß Wahrheit traditionell mit Sein zusammengedacht wird, und belegt dies mit Beispielen aus der Philosophiegeschichte (Parmenides, Aristoteles). Aristoteles nennt die Philosophie die "Wissenschaft von der Wahrheit", aber auch die "Wissenschaft, die das Seiende betrachtet als Seiendes, das heißt hinsichtlich seines Seins". Also wird der Begriff "Wahrheit" in derselben Bedeutung wie "Seiendes" verwendet.
Heidegger will nun den Zusammenhang von Wahrheit und Sein genauer analysieren.
Dazu soll in § 44
a) der traditionelle Wahrheitsbegriff analysiert werden, vor allem hinsichtlich seiner ontologischen Fundamente
b) die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriff aufgezeigt werden (wieder dieser Begriff "Abkünftigkeit", der hier schon mal für Irritationen gesorgt hat ... Also es soll die Herkunft des traditionellen Wahrheitsbegriffes untersucht werden.)
c) die Seinsart der Wahrheit geklärt werden.


Wir wissen, daß nach dem traditionellen Wahrheitsbegriff die Wahrheit in der Übereinstimmung des Urteils mit ihrem Gegenstand besteht, und daß dies auf Aristoteles zurückzuführen ist.
Ebenso wissen wir, daß nach Kant die Wahrheit im Urteil und nicht im Gegenstand liegt.

Heidegger fragt nun, was denn "Übereinstimmung" eigentlich bedeutet.
Ist es "Gleichheit"? Offensichtlich nicht, denn mein Urteil über den Baum ist eindeutig nicht das gleiche wie der Baum. Ist es "Ähnlichkeit"? Aber ein wahres Urteil soll doch eine Sache so zeigen, wie sie ist, und nicht nur so ähnlich. Wir kommen hier nicht weiter. Heidegger will deshalb "in den Seinszusammenhang" zurückfragen, der das Ganze der Beziehung von Urteil und Gegenstand trägt.

Am Urteil ist zunächst zu unterscheiden: das Urteil als realer psychischer Vorgang und das Geurteilte als idealer Inhalt. Der reale psychische Vorgang kann ebensowenig "wahr" sein wie ein Ding, er ist nur vorhanden oder nicht. Nur von dem idealen Inhalt kann gesagt werden, er sei "wahr".
Zu fragen ist also nach der Beziehung zwischen dem idealen Urteilsinhalt und dem realen Vorhandenem.
Oder ist die Frage nach dieser Bezeihung schon falsch gestellt?

bevor wir weiterlesen, müssen wir uns klarmachen, daß Heidegger hier von der Phänomenologie ausgeht. Dieser entscheidende Punkt wird von Kritikern wie Tugendhat übersehen. Heidegger hat keineswegs "vergessen", daß wir nach Kant das "Ding an sich" nicht erkennen können. Natürlich können wir unseren Menschenkopf nicht abnehmen und dann auf irgendeine Weise die Dinge so sehen, wie sie "an sich", ohne den Filter der menschlichen Sinnesorgane sind. Daraus folgt dann aber nur, daß das Ding an sich in der menschlichen Welt keine Rolle spielt - und damit ist diese Frage erledigt.

Es bleibt weiterhin das Ding, wie es nicht "an sich", sondern "für uns" ist, wie es uns erscheint: das Phänomen. Davon geht die Phänomenologie aus.

Und in diesem Sinne schreibt Heidegger: "Wann wird im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal ausdrücklich? Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist." (S. 217)

Er veranschaulicht dies durch das Beispiel von jemandem, der über ein Bild an der Wand sagt, es hänge schief. Worauf ist diese Aussage bezogen? Etwa auf eine Vorstellung von dem Bild irgendwo in den Windungen des Gehirns? Aber worauf ist dann diese Vorstellung bezogen? Nein, die Aussage "das Bild hängt schief" bezieht sich auf nichts anderes als auf das Bild an der Wand. (Wobei es, wie gesagt, sinnlos ist, hier von einem "Bild an sich" reden zu wollen - es kann für uns nur um das Bild als Phänomen gehen). "Das Aussagen ist ein Sein zum seienden Ding selbst." (S. 218)

Falsch wäre also der Gedanke, hier handele es sich um eine Übereinstimmung von "Erkennen und Gegenstand" oder "Psychischem und Physischem" oder "Bewußtseinsinhalten unter sich". Vielmehr zeigt sich das gemeinte Seiende, "wie es an ihm selbst ist". Das erkennende Sein ist ein entdeckendes Sein zum realen Seienden selbst. Wenn also jemand sagt "Das Bild hängt schief", dann ist das dadurch zu verifizieren, daß man hinsieht: Wenn sich bei diesem Hinblick zeigt, daß das Bild tatsächlich schief hängt, ist die Aussage wahr. So einfach ist das ...

"Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckend-sein. Wahrheit hat also gar nicht die Struktur einer Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines Seienden (Subjekt) an ein anderes (Objekt)." (S. 218f.)

Kommen wir zu Abschnitt b) "Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes".

Heidegger beruft sich hier auf einen Wahrheitsbegriff, der noch älter ist als die traditionelle Definition der Wahrheit als Übereinstimmung - Heidegger geht zurück zu den Griechen.

"Wahrsein des lógos als apóphansis ist das aletheúein in der Weise des apophaínesthai" - hier sind die relevanten griechischen Begriffe versammelt, und wenn man sie übersetzt, liest sich der Satz:
"Wahrsein der Rede als Heraus-sage ist das wahr sein (oder die Wahrheit sagen) in der Weise des 'Zeigens als das, was es ist'."
Oder eben: "Seiendes - aus der Verborgenheit herausnehmend - in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen."

Das Heraklit-Zitat, auf das Heidegger dann anspielt, lautet:
"Für diesen logos aber, ob er gleich ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Alles geschieht nach diesem logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich's damit verhält. Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe tun."

Also der logos sagt, wie es sich mit dem Seienden verhält. Den Unverständigen bleibt dies jedoch verborgen bzw. sie vergessen dies: Und das bestätigt Heideggers Übersetzung des Wortes "aletheia" (gewöhnlich mit "Wahrheit" übersetzt) als "Unverborgenheit", wobei im Griechischen die Worte für "verborgen sein" und "vergessen" eng verwandt sind.

Heideggers Verständnis von "wahr" hat zwei Seiten: Einmal Wahrheit als Entdecktheit, und dann Wahrsein als Entdeckend-sein. Das Wahrsein ist eine Seinsart des Daseins. Also das entdeckende Dasein entdeckt Seiendes.

Die Grundlage dafür ist die schon früher zur Sprache gekommen Erschlossenheit (s. § 31), die wiederum in der Sorge verwurzelt ist - bei Heidegger hängt alles miteinander zusammen. Erst durch die Wahrheit kann jetzt die Erschlossenheit wirklich klar werden.

"Dasein ist 'in der Wahrheit'" - was heißt das? Natürlich nicht, daß ich immer über alles die Wahrheit wissen würde. Aber es gibt eines, das ich immer schon erschlossen habe, nämlich mein eigenes Dasein.

Rückblickend fasst Heidegger, diesmal in Verbindung mit der Wahrheit, noch einmal zusammen: Zur Seinsverfassung des Daseins gehört Erschlossenheit, Geworfenheit, der Entwurf und das Verfallen. Und weil das Dasein ja an die Welt verfallen ist, ist es seiner Seinsverfassung nach in der Unwahrheit. Das Seiende ist dabei entdeckt, aber zugleich verstellt, es zeigt sich, aber im Modus des Scheins. Deshalb "vollzieht sich alle Neuentdeckung nicht auf der Basis völliger Verborgenheit, sondern im Ausgang von der Entdecktheit im Modus des Scheins." (S.222)


Weiter im Text: Wir hatten gesagt, daß das Dasein zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit ist. Seiendes ist immer in gewisser Weise schon entdeckt, aber noch verstellt (Schein), und auf dieser Grundlage kann es ganz entdeckt werden.

Die Wahrheit muß dem Seienden also immer erst "abgerungen" werden (man denke z.B. an naturwissenschaftliche Experimente).

Als Zeugen führt Heidegger nun Parmenides an: Nach seiner Lehre leben die meisten Menschen in der Unwahrheit, nur der steinige Weg der Philosophie und Wissenschaft führt zur Wahrheit. (Ob Heideggers Parmenides-Interpretation angemessen ist, bleibe hier mal dahingestellt.)

Also Wahrheit ist nicht "Übereinstimmung", sondern diese Übereinstimmung wurzelt viel tiefer, nämlich in der Erschlossenheit. Aus der Seinsart der Erschlossenheit folgt aber notwendigerweise, daß nicht sie selbst, sondern ihre Modifikation als "Übereinstimmung" in den Blick kommt.
Warum?
Damit kommen wir wieder zur "Rede". Das Dasein entdeckt nicht nur, es redet auch darüber, was es entdeckt hat. Auch die Aussage enthält die Entdecktheit des Seienden. Das Dasein muß sich also nicht in einen unmittelbaren Bezug zum Seienden bringen, es genügt auch, darüber "reden" zu hören. Damit sind wir wieder beim "Gerede" des "Man".
Wenn wir uns eine Aussage "vornehmen", erkennt man schon an dieser Formulierung, daß es sich dabei um etwas Zuhandenes handelt. Auch das Entdeckte, von dem in der Aussage die Rede ist, ist ein Zuhandenes oder Vorhandenes. Auf dieser Grundlage erst wird nun nach der Beziehung zwischen der Aussage und dem Gegenstand gefragt, und auch diese Beziehung ist nun notwendigerweise etwas Vorhandenes.
"Die Entdecktheit des Seienden rückt mit der Ausgesprochenheit der Aussage in die Seinsart des innerweltlich Zuhandenen. Sofern sich nun aber in ihr als Entdecktheit von ... ein Bezug zu Vorhandenem durchhält, wird die Entdecktheit (Wahrheit) ihrerseits zu einer vorhandenen Beziehung zwischen Vorhandenen (intellectus und res)."

Dadurch wird das existenziale Phänomen der Entdecktheit zu einem nur Vorhandenen, zur Wahrheit als Übereinstimmung.

In der Reihe der ontologischen Zusammenhänge steht die "Wahrheit als Übereinstimmung" also am Ende der Kette, dennoch gilt sie als das Erste. Der Grund dafür liegt in dem falschen Seinsverständnis, das alles Seiende nur als Vorhandenes versteht.

Heidegger schließt diesen Abschnitt mit dem zusammenfassenden Hinweis darauf, daß nicht die Aussage der "Ort" der Wahrheit ist, sondern daß umgekehrt die Aussage auf der Erschlossenheit des Daseins beruht.

Wahrheit ist kein Vorhandenes, sondern ein Existenzial.

Kommen wir zu Abschnitt c):

Heidegger betont hier, daß es Wahrheit nur "gibt", sofern Dasein ist.
Er veranschaulicht dies am Beispiel der Gesetze Newtons. Diese Gesetze waren nicht "wahr", bevor Newton sie entdeckte. Das heißt nicht, daß sie vorher falsch gewesen wären, und auch nicht, daß das mit ihnen verknüpfte Seiende nicht gewesen sei. Aber von "wahr" kann erst geredet werden, wenn etwas durch ein Dasein entdeckt ist, und solange es für das Dasein entdeckt ist.

Deshalb könnte von "ewigen Wahrheiten" nur die Rede sein, wenn bewiesen würde, daß in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird (was unwahrscheinlich ist).

Wahrheit ist relativ zum Sein des Daseins. Dies ist die logische Schlußfolgerung aus dem Satz, daß es Wahrheit nur gibt, sofern Dasein ist.
Bedeutet dies, Wahrheit sei nur "subjektiv"? Nein, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß Wahrheit ins Belieben des Subjekts gestellt wäre. Das Entdecken (das untrennbar zum Sein des Daseins gehört) bringt das entdeckende Dasein vor das Seiende selbst - das Dasein kann sich nicht "aussuchen", ob es dieses Seiende jetzt entdecken will, oder nicht. Es hat diese Wahl ebensowenig wie die, ob es ins Dasein kommen wollte, oder nicht.

Die Frage "Warum müssen wir voraussetzen, daß es Wahrheit gibt?" ist deshalb irreführend - wir müssen die Wahrheit deshalb voraussetzen, weil wir unser eigenes Dasein voraussetzen müssen. Wahrheit "hat die Seinsart bzw. den Seinssinn des Daseins selbst." (S.228)

Dies wirft auch neues Licht auf die Widerlegung des Skeptizismus (also der Behauptung, es gäbe gar keine Wahrheit), mit der sich die Philosophie schon immer schwer getan hat: Ein echter Skeptiker braucht gar nicht widerlegt zu werden, weil er die Wahrheit nur negieren kann, wenn er auch das Dasein negiert und also Selbstmord begeht - andernfalls wäre er kein echter Skeptiker, sondern würde im "Gerede" verbleiben.

In diesem Zusammenhang fertigt Heidegger dann noch ganz nebenbei den Deutschen Idealismus ab, indem er die Rechtfertigung eines "idealen Subjekts" leugnet und darauf besteht, nur von dem faktischen, "jemeinigen" Subjekt des Daseins auszugehen. "Die Behauptung 'ewiger Wahrheiten' ebenso wie die Vermengung der phänomenal gegründeten 'Idealität' des Daseins mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik" (S.229) - In der Tat ist z.B. Schellings "absolutes Ich" keineswegs ein jemeiniges Dasein, sondern ein philosophischer Gottesbegriff.

"Sein - nicht Seiendes - 'gibt es' nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist. Sein und Wahrheit 'sind' gleichursprünglich." (S.230) - Dies ist die Quintessenz von § 44. Was dann noch folgt, sind Zusammenfassungen des ersten Abschnitts und Vorausblicke auf den zweiten Abschnitt von "Sein und Zeit".




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#160

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 09.05.2012 20:23
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Mich verwundert häufig die Ablehnung gegenüber der Philosophie Heideggers, z. B. Jean Gebsers Haltung, wobei ich den leisen Verdacht hege, dass er Heidegger nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte (da er von Heidegger auch sagt, "dass er rationalisierend bis zur Inhaltsentleerung ins Formelhafte einer Zerwortung" gerät, wobei ich eher finde, dass Heidegger seine Ansichten und Voraussetzungen eben bis ins winzigste Detail darlegt und somit noch besser und genauer verständlich macht (oder doch zumindest, versucht zu machen), was er meint, um jedwede Vieldeutigkeit auszugrenzen). Ganz im Gegenteil teilt Gebser ja viele Ansichten mit Heidegger oder stimmt zumindest mit ihnen irgendwo überein. (Tja, das hat der Gute wohl gar nicht bemerkt.) Aber worauf ich mich gerade beziehe, ist seine Aussage:

Zitat von Gebser
"Nehmen wir Heidegger beim Wort (...), so lässt dieses "Geworfenwerden" das Unmenschliche seiner Philosophie erkennen. (Bisher wurden nur Tiere "geworfen")"


(Jean Gebser "Ursprung und Gegenwart, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, S. 199)

Hier verkennt Gebser wohl, dass es nicht Geworfen-Werden, sondern vielmehr ein Geworfensein ist und nicht im Sinne der tierhaften Geburt, sondern als ungewollter Akt, dem der Mensch ausgesetzt ist und durch den er (neben dem Tod) mitbestimmt ist. Wie sollte man das anders benennen, als "geworfen" in die Welt? Es ist kein Hineingesetzt-Sein, nicht einmal tatsächlich eine Geburt, wenn man es in der Auseinandersetzung Heideggers betrachtet. Es ist das Hinein-Geschleudertsein. Darin sehe ich nichts Unmenschliches, sondern eher eine Tatsache. Selbst, sollte eine Ur-Einheit oder ein GEIST Geburt und Tod und Leben irgendwo bestimmen, so ist das Einleiten des Lebens und der Eintritt in den Körper und damit in das Leben dennoch zunächst reine Geworfenheit, denn der Mensch ist sich ja noch nicht bewusst, was er ist, wozu er ist... usw. Man wird ins Leben geworfen (im Sinne von hineingeschleudert), nicht wie ein Tier, das Junge wirft (so hat es Heidegger wohl kaum gemeint), sondern gegen den Willen und muss sich dann erst finden.

Auch denke ich, dass obwohl Heidegger ganz im Praktischen, im Da-Sein und in "Masse - Ich", "uneigentlich - eigentlich"-Kategorien ...usw. bleibt, er dennoch Ebenen skizziert, die über Alltag und Dasein hinausreichen. Die Begriffe sind nicht leer oder reine Abstraktionen, sondern völlig aus dem Leben gegriffen, der Mensch in seinem Vor- und - Zurück betrachtet, in seinem Handeln, seinem Verschwinden in der Masse und daraus wieder hervortauchen, und das eben durch bestimmte Bedingungen und Selbstfindungsprozesse. Auch, was Heidegger über den Tod sagt und das Verhalten des Menschen gegenüber dem Tod, ist gut dargestellt.



Erste kürzere Zusammenfassung:

Erstes Kapitel – Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode
§ 46

Dasein bewegt sich immer in seinem Sich-vorweg-sein. Ist das nicht mehr der Fall, ist auch Dasein nicht mehr. Dasein bedeutet also auch ständige Unabgeschlossenheit.
Solange Dasein ist, hat es sein Ganzes nicht erreicht. Ist dieses erreicht, wird Ganzes zum Verlust des in-der-Welt-seins, kurz: Dasein ist nicht mehr, ist gestorben, tot.

§47
Das Dasein selbst kann seinen Übergang ins Nichtmehrsein nicht verstehen oder erfassen. Aber anhand des Todes Anderer erkennen wir, dass das Nicht-mehr-in-der-Welt-sein zum nur noch Vorhandenen wird, nämlich der Körper, die Leiche ohne Dasein. Das Ende des Seienden ist daher wieder bloßes Vorhandensein.
Wir wissen natürlich nicht, was danach kommt, sehen aber, dass etwas nicht mehr ist, nämlich das Leben, das Seiende, das das Dasein ausgemacht hat. Zurück bleibt aber nicht nur ein Körper-Ding, denn selbst der leblose Körper findet noch Verwendung, z. B. wenn seine Organe entnommen werden. Daran zeigt sich, dass das nur noch Vorhandene mehr ist als ein lebloses materielles Ding. Heidegger nennt es die Begegnung mit einem „dem Leben verlustig gegangenem Unlebendigen“. (238)
Gleichzeitig bleibt der Verstorbene Gegenstand des Besorgens, nämlich das Kümmern seiner Anverwandten um seine Beerdigung. Er ist also auch in dieser Hinsicht immer noch mehr als nur ein Ding oder Zeug. Die Hinterbliebenen sind in ihrer Trauer bei ihm, im Modus der Fürsorge.
Man sieht hier also sehr gut, dass alle Modi des seienden Daseins auch für das nicht seiende Dasein gelten, in Hinblick auf die, die immer noch sind. Während der Verstorbene die Welt verlassen hat, sind die Zurückgebliebenen immer noch in der Welt und aus ihr mit ihm, in ihren Erinnerungen, Handlungen, Gedanken. In diesem Verlust wird den Trauernden aber nicht der Seinsverlust des Sterbenden zugänglich. Hier zeigt sich, auch der Tod vereinzelt, wirft jedes Dasein auf sich selbst zurück. Er bleibt Seinsmöglichkeit seines Seins und ist nicht (mehr) Mitdasein.

Da man ist, was man betreibt, ist man im Leben auch ersetzbar. Während Dasein in der Alltäglichkeit und in seinen Seinsmöglichkeiten gewohnt ist, vertreten werden zu können, ersetzt zu werden oder austauschbar zu sein, wird dieses beim Zu-Ende-kommen unmöglich, denn das Sterben kann einen keiner abnehmen. „Sterben muss jedes Dasein jeweils selbst auf sich nehmen.“
Wie Dasein je meines ist, ist auch auch der Tod je meiner. Auch mein Dasein kann mir keiner abnehmen, wenn ich mich hier jedoch dem Man überlassen kann, das mein Dasein bestimmt, aber leben kann keiner für mich, das muss ich schon selbst tun.

§48
Nun geht Heidegger zunächst auf den Ausstand ein, wobei sich Dasein also immer in einem Noch-nicht befindet und dieses anstrebt. Mit „Ausstand“ meint Heidegger ganz explizit etwas, das noch aussteht, was zu einem Seienden zwar „gehört“, aber noch fehlt, wie z. B. eine noch nicht getilgte Schuld, die schon besteht, aber noch nicht bezahlt werden kann.
(242) Das Seiende, an dem noch etwas aussteht, hat die Seinsart des Zuhandenen.

Wie aber lässt sich dieses Fehlen zum Ganzen auf das Ende umdenken? Tod hat nun einmal keine Seinsart des innerweltlich Zuhandenen.
Dasein formt sich auch nicht aus vereinzelten fortlaufenden Seiendem, das bereits vor- oder zuhanden ist. Das Dasein existiert je schon immer gerade so, dass zu ihm sein Noch-nicht gehört. (243)

Im Gegensatz zum Mond, den wir als Halbmond oder Vollmond wahrnehmen, obwohl er immer schon ganz ist, aber in unserem wahrnehmenden Erfassen durch Wolken oder Schatten als sein Ganzes verborgen bleibt, ist das Noch-nicht des Daseins nie bereits schon vorhanden oder „wirklich“, weder für einen selbst noch für andere. Hier liegt das Problem nicht im Erfassen, sondern im Sein oder Nichtsein. Dasein muss erst werden, was es noch nicht ist.
Aber wie die Frucht reift und in dieser Reife oder Unreife bereits ist, statt dass Reife sie von außen überfällt, so ist auch das Dasein, solange es ist, sein Noch-nicht, (sein Werden). Es gibt also keinen Punkt, der schon ist und zu dem Dasein gelangen muss, sondern im Werden ist es immer sein Noch-nicht, also das, was es zu sein hat.

Und weil das Beispiel mit der Unreife einer Frucht und der folgenden Reife gefallen ist, fragt Heidegger auch nach dem Ende als Aufhören, wobei bei Dasein Reife nicht unbedingt mit dem Ende bzw. Tod erreicht sein muss oder Dasein mit seinem Tod zur Reife kommen würde. Dasein endet also zumeist in der Unvollendung.

Ende ist Aufhören. Wenn wir sagen „Der Weg hört auf.“, so endet er zwar, der Weg ist aber darum nicht einfach verschwunden, sondern vielmehr zeigt das Aufhören den Weg, der da endet.
(Wenn ich das für mich einmal vergleiche, so stelle ich fest, dass auch der Tod ähnlich fungiert. Der Tod zeigt den Menschen, der gestorben ist, auch als der, der er war. Er wird also selbst durch sein Nicht-mehr-sein sichtbar.)

Hat es aber geregnet und der Regen hört auf, so ist er verschwunden.
Beide Enden als Aufhören gelten aber im Grunde nicht für den Tod., weil Dasein damit Zuhandenes bzw. Vorhandenes würde.
(245) Im Tod ist das Dasein weder vollendet, noch einfach verschwunden, noch gar fertig geworden oder als Zuhandenes ganz verfügbar.


Ganz im Gegenteil: Dasein ist immer schon sein Ende, und das Phänomen des Todes ist Sein zum Ende.
„Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben.“
(Zitiert aus „Der Ackermann aus Böhmen“.)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.05.2012 23:15 | nach oben springen

#161

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.05.2012 19:51
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Also dann auf zu § 45 "Das Ergebnis der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins und die Aufgabe einer ursprünglichen existenzialen Interpretation dieses Seienden":

Wie der Titel schon sagt, haben wir es mal wieder mit einem Übergangsparagraphen zu tun: Das Ergebnis der bisherigen Analyse soll zusammengefaßt werden (schon wieder ... aber man kann es nicht oft genug wiederholen), und auf die kommenden Aufgaben soll vorausgeblickt werden.

Im ersten Abschnitt wurde also das In-der-Welt-sein als Grundverfassung des Daseins festgestellt. Als die Ganzheit des Daseins enthüllte sich die Sorge. Das Dasein ist "als verstehendes Seinkönnen, dem es in solchem Sein um dieses als das eigene geht", und dieses Dasein bin ich je selbst. Im Zusammenhang mit der konkreten Verfassung der Existenz wurden die Faktizität und das Verfallen des Daseins erläutert.

Gesucht wurde die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Dazu ist es erforderlich, die Möglichkeiten des Seinsverständnisses überhaupt aufzuklären (was wir bislang versucht haben). Radikal kann dies aber nur gelingen, "wenn das Seiende, zu dessen Sein es gehört, an ihm selbst hinsichtlich seines Seins ursprünglich interpretiert ist." (S. 231)

Was bedeutet aber nun eine "ursprüngliche" Interpretation? Für Heidegger muß eine solche Interpretation "sich ausdrücklich dessen versichern, ob sie das Ganze des thematischen Seienden in die Vorhabe gebracht hat." (S. 232)

Unter diesem Aspekt weist die bisherige Analyse einen wesentlichen Mangel auf: Bei der Orientierung an der Alltäglichkeit wurde nur das uneigentliche Sein des Daseins betrachtet. Zur Ganzheit der Existenz gehört aber natürlich auch notwendigerweise das eigentliche Dasein. Damit also die Interpretation ursprünglich werden kann, "muß sie das Dasein zuvor in seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit existenzial ans Licht gebracht haben". (S. 233)

Und noch etwas fehlt an der Ganzheit unserer Betrachtung. Die Existenz ist begrenzt von Geburt und Tod. Das heißt, solange das Dasein existiert, hat es (durch sein Sein-können) etwas "vor" sich, das es noch nicht ist. Solange kann es also nicht "ganz" sein. "Ganz" wird es erst durch den Tod. Da wir hier religiöse Vorstellungen von einer unsterblichen Seele ausklammern, ist es also wohl prinzipiell unmöglich, das Dasein als Ganzes in den Blick zu bekommen. Dumme Sache ...

Heidegger gibt aber so schnell nicht auf und fragt zunächst genauer nach dieser Möglichkeit.
Dazu muß das Ende des In-der-Welt-seins, der Tod, ontologisch untersucht werden. Dies ist gar nicht so einfach - der Tod ist nicht greifbar, er hat kein Sein, er ist nicht, er ist "Nichts". Es gibt ihn aber dennoch für das Dasein, nämlich in Form des "Seins zum Tode". Also auch wenn der Tod an sich vom Dasein nicht "erlebt" werden kann, so hat er doch für das Dasein Bedeutung, weil das Dasein sich seiner Sterblichkeit bewußt ist - es weiß, daß es ein Ende haben wird, daß es auf den Tod zuläuft.
Und mit dem "Sein zum Tode" haben wir nun doch die "ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins" gefunden. (Besser gesagt: Wir werden es finden. Dies ist ja nur die kurzgefasste Vorausschau auf die noch kommenden Kapitel.)

Dann soll die Frage nach der "Eigentlichkeit" gestellt werden. Eine entscheidende Rolle wird dabei das "Gewissen" spielen (wobei Heidegger mal wieder von dem abweicht, was "Gewissen" im alltäglichen Sprachgebrauch meistens bedeutet.)

Im "Sein zum Tode" wird ja bereits die darin wirkende Zeitlichkeit deutlich. Heidegger will nun die Zeitlichkeit als ursprünglichen ontologischen Grund der Existenzialität des Daseins darlegen. Nur auf der Grundlage der Zeitlichkeit sind die Sorge und die Alltäglichkeit zu verstehen. Sodann kann erörtert werden, "warum das Dasein im Grunde seines Seins geschichtlich ist und sein kann".
Nun kann erst das "alltäglich-vulgäre Zeitverständnis" begriffen werden.

Schließlich will Heidegger zu einer "noch ursprünglicheren Zeitigung der Zeitlichkeit" vordringen, in der das für das Sein des Daseins konstitutive Seinsverständnis gründet, und in dessen Horizont "der Entwurf eines Sinnes von Sein überhaupt" sich vollziehen kann (S. 235).

Dies ist also das anstehende Programm bis zum Ende von "Sein und Zeit" (die Fortsetzung wurde bekanntlich nicht mehr in der geplanten Form geschrieben). Los geht's!




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#162

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.05.2012 19:55
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Kommen wir also zu § 46 "Die scheinbare Unmöglichkeit einer ontologischen Erfassung und Bestimmung des daseinsmäßigen Ganzseins".

Dies ist schon wieder ein Einleitungs-Paragraph, der die Fragestellungen des ersten Kapitels des zweiten Teils "Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode" umreißen soll.

Wie schon in § 45 angedeutet wurde, sieht Heidegger eine Gefahr, daß möglicherweise die Ganzheit des Daseins überhaupt nicht in den Blick kommen kann, weil es erst nach seinem Ende (dem Tod) ganz ist: "Solange das Dasein als Seiendes ist, hat es seine 'Gänze' nie erreicht. Gewinnt es sie aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-der-Welt-seins schlechthin, Als Seiendes wird es dann nie mehr erfahrbar." (S.236)

Dann gibt Heidegger aber zu bedenken, ob nicht in dieser Argumentation das Dasein als ein Vorhandenes angesetzt wurde, "dem sich ständig ein Noch-nicht-vorhandenes vorwegschiebt"? Dann wäre das Dasein nicht in seinem existenzialen Sinn erfaßt. Zu fragen ist außerdem, ob dem Tod neben seiner rein biologischen Bedeutung auch eine existenzial-ontologische Bedeutung abzugewinnen ist.

Mit diesen und ähnlichen Fragen wird sich also dieses Kapitel befassen.




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#163

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.05.2012 19:57
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Gehen wir also endlich ins Detail mit § 47 "Die Erfahrbarkeit des Todes der Anderen und die Erfassungsmöglichkeit eines ganzen Daseins"

Wie wir gesehen haben, kann das Dasein seinen eigenen Tod nicht erfahren. Es erfährt aber den Tod Anderer. Dadurch wird der Tod "objektiv" zugänglich, und Heidegger fragt nun, ob dies ein möglicher Weg zu der gesuchten Ganzheit des Daseins ist.

Am Sterben der Anderen erfahren wir das merkwürdige Seinsphänomen des Umschlags eines Seienden vom Dasein zum Nichtmehrdasein.

Der Tote bleibt mehr als ein nur materielles Ding, er ist ein "Unlebendiges". Deshalb verbleibt er bei den Hinterbliebenen im Modus der ehrenden Fürsorge (er wird also nicht zum "Zuhandenen", das "besorgt" wird).

Der Tod Anderer ist ein Verlust für die Hinterbliebenen, aber eben nicht der Verlust des eigenen Daseins, den der Verstorbene selbst erleidet. Wir erfahren also durch den Tod Anderer keineswegs das, was der Tod für den Toten bedeutet. Weder ontisch noch ontologisch kann der Tod Anderer als Ersatz für das Ende des eigenen Daseins betrachtet werden.

Der Glaube an eine solche Ersatzmöglichkeit beruht auf der Voraussetzung, Dasein könne beliebig durch anderes ersetzt werden. Freilich kann in vielen Alltagssituationen ein Dasein durch ein anderes vertreten werden. Beim Tod liegt der Fall jedoch wesentlich anders: "Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. (...) Der Tod ist, sofern er 'ist', wesensmäßig je der meine."
Und dies führt zu einer wichtigen Einsicht: "Das Sterben ist keine Begebenheit, sondern ein existenzial zu verstehendes Phänomen." (S. 240)

Der Versuch, über den Tod Anderer die Ganzheit des Daseins erfassen zu können, ist damit gescheitert. Aber er hat zumindest zu der Erkenntnis geführt, daß der Tod als Sterben auf einen existenzialen Begriff gebracht werden muß.

Für die weitere Analyse soll nun zunächst "Ende" und "Ganzheit" ontologisch bestimmt werden, um Verwirrungen zwischen Dasein, Leben und bloßer Vorhandenheit zu vermeiden.




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#164

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.05.2012 20:00
von Roquairol • 1.072 Beiträge

§ 48 dürfte eigentlich auch nicht schwierig sein.
Hier soll nun geklärt werden, was "Ende" und "Ganzheit" allgemein in ontologischer Sicht bedeuten, da es im vorigen Paragraphen einige Unklarheiten damit gab.

Heidegger fragt, ob das, was dem Dasein zur Ganzheit fehlt, den Charakter eines "Ausstands" hat, also etwas, was noch aussteht, wie der Rest einer Schuldentilgung. Die Antwort ist nein, denn diese Form der Ganzheit ist eine Summe, eine Zusammenfügung von einzelnem Seienden. Das Dasein ist aber nicht erst, wenn das Noch-nicht-sein sich erfüllt hat, vielmehr ist es dann gerade nicht mehr.

Das nächste Beispiel ist das einer unreifen Frucht: Sie wird das, was sie noch nicht ist (nämlich reifer) nicht durch irgendetwas, das ihr von außen hinzugefügt würde, sondern durch sich selbst. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Reife ist die Vollendung der Frucht - der Tod ist aber nicht die Vollendung des Daseins. Enden bedeutet nicht notwendigerweise sich-vollenden.
In welchem Sinne ist der Tod nun ein "Enden"?

Wenn Regen endet, also aufhört, ist er vollständig verschwunden.
Wenn ein Weg endet, hat er sein Ziel erreicht oder bricht (als unvollständiger Weg) einfach ab, aber als Weg ist er im Unterschied zum Regen weiterhin da.

Der Tod als Ende des Daseins ist nun nichts von alledem. Die genannten Beispiele können nur auf Zuhandenes oder Vorhandendes bezogen werden.

Mit dem Dasein verhält es sich so, daß es ebenso, wie es sein Noch-nicht-sein ist, auch sein Ende ist (weil das Ende zu diesem Noch-nicht-sein gehört). Der Tod bedeutet kein Enden des Daseins, sondern ein Sein zum Ende des Daseins.

Der Tod muß also existenzial bestimmt werden, dabei sind Vorstellungen, die sich an der Zuhandenheit oder Vorhandenheit orientieren, zu vermeiden. Damit soll es in § 49 weitergehen.




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#165

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.05.2012 20:02
von Roquairol • 1.072 Beiträge

§ 49:
Hier folgt jetzt erstmal eine "Abgrenzung der existenzialen Analyse des Todes gegenüber möglichen anderen Interpretationen des Phänomens".

Also bevor der Tod ontologisch analysiert wird, soll zunächst klargestellt werden, wonach diese Analyse nicht fragt.

Es geht nicht um eine biologische Betrachtungsweise des Todes. In diesem Zusammenhang unterscheidet Heidegger das Lebensende von Tieren, das er als Verenden bezeichnet, und das von Menschen, das er Ableben nennt. Sterben ist in Heideggers Terminologie etwas ganz anderes, nämlich der "Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist." (S. 247)

Auch um eine Psychologie des Sterbens soll es nicht gehen. Ebensowenig um eine Theologie des Todes, die sich mit Fragen des Jenseits beschäftigt, und auch nicht um eine Metaphysik des Todes, die nach dem Sinn des Todes in der Welt fragt. Um all dies soll es nicht gehen.

Aber worum dann? Werden wir es vielleicht im nächsten Paragraphen erfahren?

Bleiben Sie dran!




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