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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.12.2011 15:29von Martinus • 3.195 Beiträge
Im Heidegger geht es mir z.Zt. so: Ich lese den Paragraphen, dann lese ich, was ihr geschrieben habt, und überlege dann, ob Heidegger das auch gesagt oder gemeint hat, weiß auch nicht, wo ich zu fragen anfangen soll.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.12.2011 15:38von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Werter Martinus, ich setze noch Text dazu rein und du machst es, wie immer, greifst heraus, was noch unentknotet vor Augen liegt und fragst.
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 02.01.2012 15:32von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Leute... und weiter geht's mit Heidegger.
Ich fasse noch einmal zusammen:
§36
Ein weiterer Akt der Entwurzelung des Daseins ist die Neugier. Durch Sehen, das nicht nur durch das Auge erfolgt, sondern auch Erkennen ist, wird Neugier Sehen. Sie verweilt dabei nicht, sondern gleitet hin und her, ist unruhig und ohne Verstehen. Heidegger spricht von einem Unverweilen und von Zerstreuung in neue Möglichkeiten.
Neugier wird durch Gerede bestimmt. Dieses bestimmt, was man gelesen und gesehen haben muss. So erkennt man, dass beide Seinsmodi von Rede und Sicht einander mitreißen.
(173) Die Neugier, der nichts verschlossen, das Gerede, dem nichts unverstanden bleibt, geben sich, das heißt dem so seienden Dasein, die Bürgschaft eines vermeintlichen echten „lebendigen Lebens“.
Daraus zeigt sich ein weiteres Phänomen - die Zweideutigkeit.
§37
"Alles sieht aus, wie echt verstanden", echt gelebt. Durch das alltägliche Miteinander und die Kommunikation entstehen freie Flächen des Gesagten, des Geredes und des Weitergebens, kurz: ein Durcheinander an Meinungen und Ansichten. Jeder kann alles über alles behaupten. Etwas zu spüren wird mit Wissen verwechselt und gleichgesetzt, warum alles zweideutig wird.
Wenn Heidegger hier sagt, dass die Zweideutigkeit sich auch auf das Sein des Daseins selbst erstreckt, meint er dann die Dualität? (Vgl. Anfang §37) Oder spricht er von dem, was wir als wahr empfinden, was aber noch nicht wahr sein muss?
In jener Ahnung, dass etwas geschehen könnte, verbergen sich Gerede und Neugier, so dass, selbst wenn etwas eintrifft, die Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit keine Rolle mehr spielt, sondern nur der Augenblick, wenn jemand ahnt und diese Ahnung mit anderen teilt oder diese verteidigt. Sobald das Geahnte umzusetzen ist, wird Dasein auf sich selbst zurückgeworfen und Neugier und Gerede verlieren an Kraft. Dazu kommt die Schnelllebigkeit von Neugier und Gerede, die immer beim Neuen sind, das Alte längst nicht mehr wichtig finden. Das echt Geschaffene wirkt damit dann veraltet. Das Umgesetzte kann also nur dann frei sein, wenn das allgemeine Interesse darüber erloschen ist (… und dann interessiert es ja niemanden mehr).
Daran lässt sich erkennen, dass die Zweideutigkeit dem Ahnen und Vorweg-Gerede mehr Inhalt und Wirklichkeit zugesteht, als dem dann tatsächlich Geschehenen, das belanglos wird.
(174) „Das Verstehen des Daseins im Man versieht sich daher in seinen Entwürfen ständig hinsichtlich der echten Seinsmöglichkeiten.“
Die Zweideutigkeit gibt der Neugier und dem Gerede den Schein der Echtheit, der sich nicht nur für das Dasein ausnimmt, sondern auch das Miteinandersein betrifft. Ein Anderer erscheint uns immer als derjenige, von dem wir gehört haben, was man über ihn redet und weiß. Zwischen ein wirkliches Kennenlernen schiebt sich also das Gerede.
„Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“ Wir horchen einander aus, warten gespannt ab, was der Andere tut oder sagt.
Das kann man z. B. in einem Betrieb hervorragend beobachten. Der Chef ist Chef und ihm wird auch diese Rolle zugeteilt plus das Gerede der Mitarbeiter. Jeder spielt seinen "Auftritt" unter den Menschen, seine öffentliche Rolle, hat seine Verantwortung, seinen Ruf. Und wenn dann ein neuer Mensch in der Firma anfängt, dann trifft er zunächst nur auf die Schablonen, zu denen die Menschen im Gerede gemacht werden, die einander mit Konkurrenz und Erfolgsstreben begegnen, und ist zunächst geneigt, den echten Menschen, der hinter dem Berufsmenschen steht, zu übersehen.
Aber dieses Verhalten reicht eben auch weit über das Miteinander im beruflichen Sinne hinaus. Wir neigen dazu, unser Verständnis zunächst durch das Man bestimmen zu lassen, bevor wir uns selbst ein eigenes Urteil bilden (manche unterlassen selbst das).
Es zeigt sich also auch hier: Gerede, Neugier und Zweideutigkeit sind keine existenzialen Bestimmtheiten, die gesondert vorhanden sind, sondern sie machen das Dasein aus und enthüllen die Grundart des Seins der Alltäglichkeit.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 07.01.2012 19:42von Roquairol • 1.072 Beiträge
Heideggers Begriff der "Zweideutigkeit" in § 37 bezeichnet das aus Gerede und Neugier geschaffene Phänomen, daß es nicht mehr erkennbar ist, ob etwas durch echtes Verstehen "erschlossen" wurde, oder nur durch Hörensagen weitergetragen wird. Alle Ideen, die "man" diskutiert, sind von dieser Zweideutigkeit gezeichnet. Sie werden davon erstickt, oder eigentlich von der hinter der Zweideutigkeit wirkenden Neugier, die immer wieder zu neuen Ideen treibt, über die unverbindlich geredet werden kann. Wenn eine Idee dann ausgereift ist, wirkt sie durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit bereits veraltet.
Besonders interessant ist die Zweideutigkeit in Hinsicht auf das Miteinandersein. "Der Andere ist zunächst 'da' aus dem her, was man von ihm gehört hat, was man über ihn redet und weiß. Zwischen das ursprüngliche Miteinandersein schiebt sich zunächst das Gerede." - Dies dürfte jedem klar sein, der einmal einen Prominenten persönlich kennengelernt hat, sei es ein Künstler, Wissenschaftler oder der Bundeskanzler: Es ist ein etwas irritierender Anblick, wenn dieser Mensch in seiner Küche steht und einen Apfel schält. Theoretisch wissen wir natürlich schon, daß er ein Mensch ist wie wir auch, aber ohne diese direkte phänomenale Erfahrung können wir es nicht so recht glauben, weil das "Gerede" sich wie ein Schleier über ihn gelegt hat. Was im Fernsehen von ihm zu sehen ist, oder was über ihn zu lesen ist, scheint das Sein dieses Menschen auszumachen. Erst die direkte Erfahrung, diesen Menschen in seinem Alltag zu erleben, kann das Gerede sprengen.
Auch hier betont Heidegger wieder, daß die Zweideutigkeit keiner direkten Absicht zur Verstellung oder Täuschung entspringt. "Sie liegt schon im Miteinandersein als dem geworfenen Miteinandersein in einer Welt."
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 16.01.2012 23:23von Roquairol • 1.072 Beiträge
§ 38
Ich bin ich mir nicht sicher, ob Heidegger sich in diesem verflixten § 38 selbst versteht.
Er betont mehrfach, daß es nicht um eine moralische oder sonstige Wertung gehe. Dann verwendet er aber Begriffe wie "Verfallen" oder "Absturz", die in sich schon eine klare negative Wertung tragen. Wenn wirklich keine Wertung beabsichtigt ist, warum greift Heidegger dann nicht zu weniger aufgeladenen Begriffen?
Große Probleme habe ich mit der "Kultur-Passage" oben auf S. 178. Heidegger stellt die Beschäftigung mit fremden Kulturen gegen das "eigenste Dasein". Soll dies bedeuten, daß zu meinem Dasein immer schon eine bestimmte Kultur gehört? Dies ist aber keineswegs klar. Hier wird offenbar auf Heideggers späteren Begriff der "Bodenständigkeit" vorausgewiesen. Auch wenn ich die Kritik nicht teile, daß sich darin ein latenter Antisemitismus verberge, kann ich Heideggers Kultur-Begriff hier nicht nachvollziehen. Manche Leute gehen in die Oper, andere zum Fußball - sind dies zwei verschiedene Kulturen? Oder nur unterschiedliche Ausrichtungen innerhalb der westlichen Kultur, zwischen denen ich mich entscheiden kann? Dann könnte man aber nicht mehr sagen, daß zu meinem Dasein von vornherein eine bestimmte Kultur gehört.
Im folgenden Absatz sehe ich mit der "Selbstzergliederung" eine direkte Anspielung auf die Psychoanalyse. Ich kann Heidegger aber nicht darin folgen, daß diese nur zu Entfremdung und Uneigentlichkeit führen müsse.
Heidegger betont auf S. 176, die Verfallenheit dürfe nicht als "Fall" aus einem reineren und höheren "Urzustand" aufgefaßt werden. Seine Formulierungen in § 38 deuten aber ständig gerade auf einen solchen Urzustand hin. Mir scheint, Heidegger steckt hier in einer gedanklichen Unklarheit, aus der er selbst keinen klaren Ausweg findet. (Sartre fand diesen Ausweg, indem er das Dasein als Freiheit definierte. Damit hängt aber zusammen, die Psychoanalyse durchaus als positives Instrument der Befreiung zu verstehen, und die Kultur wird im wesentlichen eine Angelegenheit der freien Wahl.)
Das Verfallen des Daseins ist eine Grundart des alltäglichen Seins, die durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit enthüllt wird. Verfallen bedeutet: "Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlichem Seinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die 'Welt' verfallen." Dies soll jedoch keine negative Wertung bedeuten ...
Die Uneigentlichkeit ist die normale, alltägliche Seinsart des Daseins. Die Verfallenheit darf nicht als "Fall" aus einem reineren und höheren "Urzustand" aufgefaßt werden.
Zweiter Versuch:
Das Verfallen ist eine Seinsart, und zwar die alltägliche Seinsart solcher Seinsweisen wie dem In-Sein, dem Besorgen, der Fürsorge usw.
Das Gerede ist die Seinsart des Miteinanderseins. Dadurch ist es im Dasein selbst die Möglichkeit, sich im Man zu verlieren. Das Dasein bereitet sich selbst die ständige Versuchung zum Verfallen.
Das Verfallen wirkt zugleich beruhigend auf das Dasein, das nun glaubt, das "echte Leben" zu führen (obwohl es gerade das eigentliche Verstehen des Seins verfehlt). Es stürzt sich in den "Betrieb", wodurch das Verfallen immer weiter gesteigert wird.
Nun folgt der für mich anstößige Abschnitt mit den fremden Kulturen ... Es könnte die Meinung aufkommen, "das Verstehen der fremdesten Kulturen und die 'Synthese' dieser mit der eigenen führe zu restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst." In dem ruhelosen Alles-kennen bleibe aber unverstanden, "daß Verstehen selbst ein Seinkönnen ist, das einzig im eigensten Dasein frei werden muß." Durch das Sich-vergleichen mit allem werde das Dasein dagegen entfremdet.
Diese Entfremdung treibt das Dasein wiederum in "übertriebenste Selbstzergliederung" (Psycho-Analyse). Dadurch wird es in die Uneigentlichkeit gedrängt, das Dasein verfängt sich in sich selbst.
Das bisher Gesagte fasst Heidegger mit dem Begriff "Absturz" zusammen: Das Dasein stürzt in die Bodenlosigkeit (also dem Gegensatz zu Heideggers späterem Begriff der Bodenständigkeit!), in den uneigentlichen Alltag.
Hinzu kommt nun noch das ständige Losreißen vom Entwerfen eigentlicher Möglichkeiten in eins mit dem Hineinreißen in das Man - dies nennt Heidegger den "Wirbel". Die Geworfenheit des Daseins ist kein abgeschlossenes Faktum - vielmehr bleibt das Dasein, solange es ist, was es ist, "im Wurf", und wird in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt.
Das Verfallen besagt nichts gegen die Existenzialität des Daseins, im Gegenteil: "Im Verfallen geht es um nichts anderes als um das In-der-Welt-sein-können, wenngleich im Modus der Uneigentlichkeit." Die eigentliche Existenz ist wiederum nur ein modifizierendes Ergreifen der verfallenden Alltäglichkeit (!).
Das Verfallen ist kein negativer Aspekt des Dasein und keine Aussage über die "Verderbnis der menschlichen Natur" - es ist nur ein "ontologischer Bewegungsbegriff", der etwas über die Alltäglichkeit des Daseins aussagt.
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 17.01.2012 00:35von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
§ 38
Ich bin ich mir nicht sicher, ob Heidegger sich in diesem verflixten § 38 selbst versteht.
Er betont mehrfach, daß es nicht um eine moralische oder sonstige Wertung gehe. Dann verwendet er aber Begriffe wie "Verfallen" oder "Absturz", die in sich schon eine klare negative Wertung tragen. Wenn wirklich keine Wertung beabsichtigt ist, warum greift Heidegger dann nicht zu weniger aufgeladenen Begriffen?
Ähnliches ist mir auch aufgefallen und hat in etwa die gleichen Hintergedanken hervorgebracht. (Morgen, wenn ich etwas mehr Zeit habe, werde ich deine Zusammenfassung noch einmal genauer betrachten, die von mir aber bereits zitierten Worte stimmen eindeutig mit den meinen überein.)
Noch einmal kurz aus meiner Sicht:
Würde jeder für sich selbst sein und agieren, wäre die Gemeinschaft, die Menschheit schnell verloren, würde in ihren Fortschritten wieder Rückschritte machen. So zumindest drückt sich Heidegger aus, um zu verdeutlichen, dass das Aufgehen im Man, das Verfallensein in dieses eine positiv zu sehende Eigenschaft ist. Das Dasein erlischt hier nicht oder ist im Man ein Nichts, sondern ist im Man ein ständiges Besorgen oder geht besorgt auf in der Welt. Die Welt gehört, laut Heidegger, immer schon zum Dasein dazu.
Durch das Verfallen und damit Versuchen im Man wird Dasein beruhigt, als ständen ihm alle Türen offen. Diese Beruhigung aber steigert das Verfallen bis zu einer Entfremdung.
(Hier wird immer wieder deutlich, dass Heidegger sich zwar rechtfertigt, dass er keine Kritik am Man an sich äußert, dennoch darauf verweisen will, warum dieses Man das Dasein von sich selbst entfernt. Nur weil ich mich in einer Masse – wie es alle tun – ausruhe, habe ich noch nichts über mich selbst begriffen oder weiß, was ich wirklich will. Sobald Heidegger von Missverständnis spricht, negative Tendenzen darin zu sehen, weil das Man eben Welt und damit dem Dasein Grund zu sein bietet, spricht er aber auch ganz offen all das an, was in diesem Man eben auch falsch oder verschleiernd verläuft.)
Hier ist Dasein ganz in seiner Uneigentlichkeit und blickt auf etliche Möglichkeiten. Uneigentlichkeit ist nur eine Seinsart, wie wir gesehen haben. Eigentlichkeit ist die andere.
Versuchung, Beruhigung, Entfremdung und Sichfangen sind die spezifische Seinsart des Verfallens. Die Bewegtheit ist der Absturz.
(178) „Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit.“
(Zum Beispiel in dieser Aussage kann ich rein gar nichts Positives entdecken, außer dass dem Dasein sein Leben in dieser Art des uneigentlichen Seins erleichtert wird. Allerdings verweist Heidegger noch einmal darauf, dass Uneigentlichkeit bedeutet, in der Welt sein zu können, während Eigentlichkeit nur ein modifiziertes Ergreifen dieser ist. Man darf hier, nach Heidegger, eben nicht von einem Ich-Subjekt ausgehen, was aber schwer fällt, wenn man liest, was er über Dasein und Man anführt. Man muss sich eben doch immer die Alltäglichkeit vor Augen führen und das Dasein als Mensch.) Und weiter heißt es:
„Dieser Sturz aber bleibt ihm durch die öffentliche Ausgelegtheit verborgen, so zwar, dass er ausgelegt wird als „Aufstieg“ und „konkretes Leben“.
Das zeigt sich häufig in der Gesellschaft. Wir werden erzogen und darauf getrimmt, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein, Erfolg zu haben, uns über andere zu erheben, besser sein zu müssen, leistungsstärker. Dabei, beschreiten wir diesen Weg, verlieren wir aber immer mehr uns selbst. Am Ende wissen wir gar nicht mehr, wer wir waren, nur wer wir sind, und zwar, in den Augen der anderen. Trotzdem ist es Alltäglichkeit. (Will man Dasein fassen, muss man auf seine Alltäglichkeit und das Verfallen im Man blicken, ohne darüber zu werten, weil es eine Tatsache ist. Soweit habe ich das verstanden. Es geht Heidegger nicht darum zu zeigen, ob der Mensch „in Sünde ersoffen“ ist, aber in dem, wie er das Dasein als das zeigt, was es ist, untermalt er eben doch dessen Schwächen und Stärken.)
Zusammenfassend lässt sich sagen: Dasein ist in die Welt geworfen. Geworfenheit ist nicht fertige Tatsache, sondern ein nicht abgeschlossenes Faktum. „Zu dessen Faktizität gehört, dass das Dasein, solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird*. Geworfenheit gehört zum Dasein. Dasein existiert faktisch."
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(* Unter Wirbel verstehen wir das beständige Losreißen des uneigentlichen Daseins von seiner Eigentlichkeit und ihrem Vortäuschen im Man)
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 19.01.2012 11:48von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Roquairol
Große Probleme habe ich mit der "Kultur-Passage" oben auf S. 178. Heidegger stellt die Beschäftigung mit fremden Kulturen gegen das "eigenste Dasein". Soll dies bedeuten, daß zu meinem Dasein immer schon eine bestimmte Kultur gehört? Dies ist aber keineswegs klar.
Ich plädiere für folgendes, weiß aber nicht, ob Heidegger das so sehen wollte wie ich:
Durch unsere Geburt werden wir in einen bestimmten Kulturkreis geworfen, darum hat unser Dasein auch einen Bezug zu unserer Kultur. Ob wir dann später mal Fußball schauen oder in die Oper gehen, spielt keine Rolle. Die Kultur hat verschiedene Ausprägungen. Irgendwelchen Ausprägungen, je nach Interesse, schließe ich mich an. Ohne Kultur leben wir Menschen nicht, darum hat Kultur einen engen Bezug zum Dasein.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 21.01.2012 00:47von Roquairol • 1.072 Beiträge
Hallo Martinus,
vermutlich hat Heidegger das irgendwie so gesehen. Zu begründen ist das aber letzlich nur, wenn man Kulturen als etwas statisches ansieht, was natürlich Unsinn ist. Heute sehen wir ja tagtäglich, wie Kulturen sich wandeln und gegenseitig beeinflussen.
In Heideggers Zeit war das wohl noch nicht so offensichtlich, aber diese Haltung hat aus der heutigen Perspektive durchaus etwas lächerliches. So wie Ekel Alfred, wenn er gegen das Vordringen von Spaghetti und Pizza ankämpft ....
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 21.01.2012 15:20von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
Große Probleme habe ich mit der "Kultur-Passage" oben auf S. 178. Heidegger stellt die Beschäftigung mit fremden Kulturen gegen das "eigenste Dasein". Soll dies bedeuten, daß zu meinem Dasein immer schon eine bestimmte Kultur gehört? Dies ist aber keineswegs klar.
Ich glaube nicht, dass Heidegger das so gemeint hat, wie du es aufgefasst hast. Hier geht es, meiner Ansicht nach, gar nicht so sehr um Kultur und die bestimmte Kultur, sondern Heidegger will aufzeigen, dass die Versuchung, sich ganz im Man zu verlieren, dem Dasein weiß macht, es könne, da das Man Alles und Niemand ist und die Allgemeinheit verkörpert, auch im Verfallensein und der damit eintretenden Beruhigung über sich selbst hinaus alles anhand anderer oder fremder Kulturen erfassen und mittels Vergleichen darüber auf sich selbst schließen. Dasein nimmt diesen "Man-Körper" als tatsächliches Sein und glaubt, es könnte darüber auch sich selbst bestimmen, es merkt nicht mehr (aufgrund des Wohlgefühls im Man), dass es gelenkt wird. Es erliegt dem Trugschluss, über das Man und die Anderen sich selbst zu verstehen. Aber wir wissen ja: Je tiefer Dasein im Man "versinkt", desto tiefer ist Dasein uneigentlich. Darum ist der Irrglaube, sich über das Man definieren zu können und sich auf diese Weise begreifen zu wollen eine Entfremdung. Im Man bleibt es Täuschung, zu denken, Dasein würde in diesem Verfallensein und der Anpassung an Andere universales Daseinsverständnis entwickeln. Dasein begreift sich selbst nur in der Loslösung, im Eigentlich-Werden.
Allerdings finde ich die Frage interessant, darüber nachzudenken: Was ist Kultur? Und gehört jeder Mensch immer schon zu einer bestimmten? Wenn man hier nämlich die Wurzeln betrachtet, woher man stammt, welcher Familie man angehört, in welchem Land man lebt, dann ist ein Kern an diesen Ursprüngen in einem selbst vorhanden und man kann diesen Wurzeln auch nicht entkommen oder sich von ihnen lossagen. Kultur ist allerdings für mich nicht, ob man lieber Fußball guckt oder ins Theater geht. Das ist Kulturleben oder sind Interessen innerhalb einer Kultur. Kultur sehe ich eher in bestimmten Traditionen. Je nachdem, wo man aufwächst, wächst man auch mit einer bestimmten Kultur auf. Und die Kultur bildet sich aus Geschmack, Tradition, Umstände, Möglichkeiten, Einflüsse... usw. Diese wiederum prägen auch den Menschen.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 21.01.2012 18:55von Roquairol • 1.072 Beiträge
Also es geht mir um diese Stelle:
"In der besonderen Rücksicht auf die Daseinsauslegung kann jetzt die Meinung aufkommen, das Verstehen der fremdesten Kulturen und die "Synthese" dieser mit der eigenen führe zur restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst. (...) In diesem beruhigten, alles "verstehenden" Sich-vergleichen mit allem treibt das Dasein einer Entfremdung zu, in der sich ihm das eigenste Seinkönnen verbirgt." (SuZ 178)
Heidegger könnte hier z.B. die Beschäftigung mit asiatischen Weisheitslehren im Sinn gehabt haben, die damals eine erste Blüte erlebte (siehe u.a. Hermann Hesse, der zu der Zeit seinen Roman "Siddhartha" schrieb). Er hat natürlich dahingehend recht, dass die Beschäftigung damit nicht zu einer "restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst" führt. Aber würde denn die Beschäftigung mit der eigenen Kultur zur echten Aufklärung meines Daseins führen? Das ist der Punkt, auf den es mir ankommt. Heideggers Ablehnung der fremden Kulturen impliziert doch, dass ich mich besser nur mit meiner eigenen Kultur beschäftige.
Und was dann die Frage betrifft, was Kultur eigentlich ist, denke ich doch, dass sich ein deutscher, russischer und brasilianischer Fussballfan einerseits und ein deutscher, russischer und brasilianischer Opernfreund andererseits mehr zu sagen hätten als Deutsche, Russen und Brasilianer unter sich ...
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 21.01.2012 22:29von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
Also es geht mir um diese Stelle:
"In der besonderen Rücksicht auf die Daseinsauslegung kann jetzt die Meinung aufkommen, das Verstehen der fremdesten Kulturen und die "Synthese" dieser mit der eigenen führe zur restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst. (...) In diesem beruhigten, alles "verstehenden" Sich-vergleichen mit allem treibt das Dasein einer Entfremdung zu, in der sich ihm das eigenste Seinkönnen verbirgt." (SuZ 178)
Heidegger könnte hier z.B. die Beschäftigung mit asiatischen Weisheitslehren im Sinn gehabt haben, die damals eine erste Blüte erlebte (siehe u.a. Hermann Hesse, der zu der Zeit seinen Roman "Siddhartha" schrieb).
Ja, das kann natürlich sein.
Zitat von Roquairol
Er hat natürlich dahingehend recht, dass die Beschäftigung damit nicht zu einer "restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über sich selbst" führt.
Für mich drücken die Zeilen genau das aus, also weniger eine Ablehnung Heideggers für fremde Kulturen als sie Hinweis darauf sind, dass Dasein sich weder mittels anderer Kulturen vergleichen noch durch die eigene auf sich selbst schließen kann.
Will heißen: Ich kann zwar alte übermittelte Schriften zu Rate ziehen oder mich aufmerksam in der Welt umsehen, all das auch durchaus mit der eigenen Kultur vergleichen oder sogar vermischen, werde aber darüber noch nicht gleich etwas über mich selbst erfahren. All das ist nur Hinweis, ein Verstehen-Wollen, Rückschlüsse, die ich ziehen kann. Man kann übernehmen, die eigene Kultur pflegen, all das vermengen, ohne dabei zu erkennen, wer man ist, denn man ist ja immer noch verfallen an das Man. Die Selbst-Erfahrung ist erst dann tatsächlich möglich, wenn ich mir meines eigenen Todes bewusst werde, dann wird Dasein eigentlich.
Ich denke also, Heidegger spielt nicht auf Kultur per se an, sondern nimmt die „fremde Kultur“ nur als Beispiel, ohne eine Ablehnung dieser. Im Man ist fremde und auch die eigene Kultur lediglich Verstehen-Wollen, das Dasein bleibt aber weiterhin uneigentlich als die Entfremdung seiner selbst.
Und darum dann auch die Antwort darauf:
Zitat von Roquairol
Aber würde denn die Beschäftigung mit der eigenen Kultur zur echten Aufklärung meines Daseins führen? Das ist der Punkt, auf den es mir ankommt.
Nein, würde sie nicht. Die eigene Kultur ist wie die fremde keine echte Aufklärung des Daseins. Ich denke aber eben auch, die Frage hat Heidegger in diesem Sinne gar nicht erst aufgeworfen.
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 04.02.2012 12:52von Martinus • 3.195 Beiträge
In §39 geht es darum, ob es möglich ist, das Dasein als ein Strukturganzes der Alltäglichkeit zu erfassen. Es geht um die Vereinheitlichung aller Strukturen des Daseins.
Das Dasein kann als ein Ganzes nur einheitlich erfasst werden, wenn man
Zitat von Heidegger
in einem vollen Durchblick durch dieses Ganze auf ein ursprünglich einheitliches Phänomen, das im Ganzen schon liegt, so dass es jedes Strukturornament in seiner strukturalen Möglichkeit ontologisch fundiert.
Das Dasein ist ontologisch fundiert. Heidegger spricht dann auch vom „Seinverständnis“. Nur auf dieser Ebene scheint eine Vereinheitlichung möglich zu sein. Mit der Erschlossenheit des Daseins soll dann „die Strukturganzheit des gesuchten Seins elementar an Licht kommen.“
Was bedeutet das praktisch? Das Sein selbst, ist bei Heidegger ja (bisher) nicht erfasst, weil es sich auch einer Definition entzieht. Kommt das Sein vielleicht näher ans Licht, wenn Heidegger später das Phänomen Zeit einbezieht?
Weil ich nicht so tiefen Durchblick habe, verstehe ich nicht, wie Heidegger in diesem Zusammenhang auf die Angst kommt. Es ist wohl ein kleiner Umweg. Es geht um die Erschließungsmöglichkeiten des Daseins.
Die Angst als eine Grundbefindlichkeit
Zitat von Heidegger
und die ontologische Charakteristik des in ihr Erschlossenen als solchen nimmt den Ausgang von dem Phänomen des Verfallens und grenzt die Angst ab gegen das früher analysierte verwandte Phänomen der Furcht.
Zwei Fragen
1)Was meint Heidegger mit „Verfallen“?
2)Will Heidegger dem Sein näher rücken, in dem er Grundbefindlichkeiten des Daseins beleuchtet?
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 05.02.2012 18:46von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus.
Zitat von Martinus
1)Was meint Heidegger mit „Verfallen“?
2)Will Heidegger dem Sein näher rücken, in dem er Grundbefindlichkeiten des Daseins beleuchtet?
1) Mit "Verfallen" meint Heidegger die zunächst vorhandene Grundvoraussetzung, dass das Dasein im Man verschwindet, also an dieses durch Versuchung, Beruhigung, Entfremdung und dem Sichfangen verfallen ist.
2) Ja und nein. Heidegger versucht weniger das Sein selbst zu entschlüsseln, als - über die Alltäglichkeit - das Dasein in seinem Sein zu definieren. Das lässt sich mitunter durch die Grundbefindlichkeiten, die Dasein ausmachen.
Zitat von Martinus
Weil ich nicht so tiefen Durchblick habe, verstehe ich nicht, wie Heidegger in diesem Zusammenhang auf die Angst kommt. Es ist wohl ein kleiner Umweg.
Nein, das Befassen Heideggers mit der Angst ist kein Umweg, sondern erklärt das Verfallensein an das Man. Wir hatten ja gesehen, dass Furcht die Strukturen der Befindlichkeit hervorbringt. Weil Dasein Furcht hat, erkennt es das Furchtbare usw.
Die Angst wiederum bringt nicht so sehr Bedrohung mit sich, sondern ist, wie du ja auch schon sagst, eine Grundbefindlichkeit. Das heißt nichts anders, als dass Dasein erkennt, dass es in die Welt geworfen ist und herausfinden muss, wozu es in der Welt ist. Es findet schnell Alternativen, um sich vor dieser Angst zu bewahren. Mit der Flucht ins Man nimmt diese Befindlichkeit der Angst ab. Je mehr sich das Dasein wieder sich selbst nähert und dem Verfallensein entkommen will, desto größer wird die Angst.
Das Man wird unter diesen Voraussetzungen für das Dasein eine Flucht und Stütze, um seiner Angst zu entkommen, die aber im Man lediglich überdeckt wird, niemals verschwindet. Im Man glaubt das Dasein sich gut aufgehoben, da es beruhigt und geleitet wird, während die vom Dasein empfundene Angst (ohne das Man) vereinzelt und Dasein auf sich selbst zurückwirft.
Durch Angst ist Dasein dann also zum ersten Mal vor die Möglichkeiten der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gestellt.
Und auch wenn es eigentlich geworden ist, kann es sich, um der Angst zu entkommen, immer einmal wieder dem Man überlassen. Aber dann ist es nicht mehr verfallen, sondern geht bewusst darin auf. (Das kommt alles noch genauer zur Sprache.)
Kurz bedeutet das: wenn Dasein eigentlich werden will, muss es sich der Grundbefindlichkeit der Angst stellen. Dies ist die Schwierigkeit des Selbstbewusstwerdens. Dasein erkennt, dass es gegen seinen Willen in die Welt geworfen ist und kann diese Bedingung nicht ändern. Das bringt die Angst hervor. Da dieser Vorgang nicht umkehrbar ist (das Leben und den Tod einem auch keiner abnehmen kann), wird sich Dasein nach und nach bewusst, dass es sich nicht ewig dem Man überlassen kann. Es muss der Vertrautheit im Man, seinem Verfallen-Sein entkommen und erkennen, wofür es in der Welt ist.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.02.2012 23:53von Roquairol • 1.072 Beiträge
Gehen wir also weiter zu § 39, damit können wir uns wieder kurz fassen, denn es handelt sich um den einleitenden Übersichtsparagraphen zum 6. Kapitel.
(Es ist übrigens empfehlenswert, jetzt noch einmal § 28 zu lesen, dem einleitenden Paragraphen des 5. Kapitels, um noch einmal das Gesamtbild vor Augen zu haben und die Paragraphen 29 bis 38 nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen zu lassen.)
Es soll im 6. Kapitel darum gehen, die strukturelle Ganzheit des alltäglichen Daseins zu erfassen. Bisher haben wir in der Seinsanalyse verschiedene Aspekte des Daseins ermittelt, aber die Ganzheit des Daseins ist nicht dadurch zu erkennen, daß man diese Aspekte einfach zusammensetzen würde.
Heidegger fragt nach einer besonderen verstehenden Befindlichkeit im Dasein, "in der es ihm selbst in ausgezeichneter Weise erschlossen ist". Er findet diese Befindlichkeit in der Angst, die in § 40 behandelt wird.
Dann soll die ontologische Interpretation des Daseins als Sorge vorbereitet und vertieft werden (§ 41 und 42).
Die Erörterung des ontologischen Zusammenhangs von Sorge, Weltlichkeit, Zuhandenheit und Vorhandenheit führt zu einer schärferen Bestimmung des Begriffes von Realität (§ 43).
Schließlich ist es zur Vorbereitung der Seinsfrage nötig, den alten Zusammenhang zwischen Sein und Wahrheit zu klären (§ 44).
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