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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#121

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 06.12.2011 16:49
von Roquairol • 1.072 Beiträge

§ 32:
Das Verstehen hat die Möglichkeit, sich auszubilden - dies nennt Heidegger "Auslegung". Auch hier darf man den Begriff mal wieder nicht verwechseln mit dem, was man sonst unter Auslegung versteht.
Heidegger nennt "Auslegung" das Verstehen der Umsicht, die ein Etwas in seinem "Um-zu ..." versteht. Ein in dieser Weise verstandenes und ausgelegtes Etwas kann also mit "es ist zum ..." benannt werden.
Beispiel: Ein Archäologe gräbt in einer antiken Stadt einen seltsamen Eisengegenstand aus, den er noch nie gesehen hat. Auch andere Forscher kennen das Ding nicht. Es bleibt so völlig unverstanden, ein Rätsel. Bis dann eines Tages jemand durch weitere Funde den Geistesblitz bekommt: "Das Ding ist zum Oliven ernten."
Ein Etwas verstehen und es mit "es ist zum ..." benennen zu können ist also dasselbe.

Ich verstehe also etwas als das, zu dem es zu nehmen ist.
Wobei es nicht erforderlich ist, daß ich im Verstehen diese Als-Struktur im sprachlichen Sinne formuliere. Das schlichte Sehen eines Dinges trägt diese Als-Struktur schon immer in sich. (Um das zu sagen, braucht Heidegger eine ganze Seite ...)

Man darf allerdings nicht denken, die Auslegung würde über das Vorhandene zusätzlich eine Bedeutung werfen oder es mit einem Wert bekleben. Sondern "mit dem innerweltlichen Begegnenden als solchem hat es je schon eine im Weltverstehen erschlossene Bewandnis, die durch die Auslegung herausgelegt wird."

Die Auslegung ruht auf einem dreifachen unbewußten Fundament: Vor-habe, Vor-sicht und Vor-griff.
Die Vorhabe ist die vom Dasein schon verstandene Bewandtnisganzheit.
Die Vorsicht ist die spezifische, für die Auslegung vorab gewählte "Sicht".
Der Vorgriff ist die für die Auslegung gewählte Begrifflichkeit.

Sehr interessant ist Heideggers Beispiel der Textinterpretation, die eine "besondere Konkretion der Auslegung" ist: Die spontane "Vormeinung" eines Interpreten angesichts einer vermeintlich klaren Textstelle ist das Ergebnis von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff.

Bevor diese grundlegende Verbindung der Vor-Struktur des Verstehens und der Als-Struktur der Auslegung näher untersucht werden kann, müssen erst weitere Fragen geklärt werden.

Heidegger kommt nun zum "Sinn". - "Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird." Aber Sinn ist keine Eigenschaft, die dem Seienden anhaften würde, sondern ein Existenzial des Daseins. Nur das Dasein kann deshalb sinnvoll oder sinnlos sein. Seiendes ist stets unsinnig oder gar widersinnig (wenn es sich gegen das Dasein richtet, wie Naturkatastrophen).

Als ich gestern durch den Düsseldorfer Hofgarten spazierte und dort auf eine Plastik von Henry Moore stieß, mußte ich noch einmal über die Frage nach dem "Sinn" nachdenken. Der Sinn ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wenn ich bei einem Kunstwerk nach dem "Sinn" frage, kann dieser Sinn keinsfalls "in" dem Kunstwerk selbst liegen. Dabei handelt es sich rein materiell um sinnlose Steine. Sondern der "Sinn" kann nur im Dasein, also in mir sein. Durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff kann ich ihn finden (oder eben auch nicht, wenn dieses Vor-Verständnis in mir nicht ausreicht).

Es folgt nun ein entscheidender Satz, der den "Sinn" des ganzen vorliegenden Buches betrifft:
"Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was hinter dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht."
Die Frage nach dem Sinn von Sein fragt also keineswegs nach einem rätselhaften Etwas, das hinter dem Sein stehen würde (ein solches Etwas könnte prinzipiell nur ein Gott sein, die Frage würde schon deshalb nicht in die Philosophie, sondern in die Theologie gehören). Sondern sie fragt nach dem Sein selbst, wie es sich dem Dasein z.B. in der Zuhandenheit zeigt.

Schließlich kommt in § 32 die Zirkelstruktur des Verstehens zur Sprache, auf die früher schon mehrfach angespielt worden war. Die genannte Vor-Struktur (Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff) bedingt, daß ich das Auszulegende in gewisser Weise schon verstanden haben muß, damit ich es auslegen kann. Dies ist der sogenannte "hermeneutische Zirkel", durch den sich die Geisteswissenschaften (die Heidegger "Historie" nennt) prinzipiell von den Naturwissenschaften unterscheiden. Dabei sind die Naturwissenschaften nicht "strenger", vielmehr konzentrieren sie sich nur auf ein engeres Feld von Erkenntnissen. Das naturwissenschaftliche Verstehen ist "nur eine Abart" (also Unterart) der Verstehens, das generell immer von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff abhängig ist. Deshalb: "Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen."
(Genau aus diesem Grunde wird immer wieder nach dem besten Einstieg in die Philosophie gefragt, nach der rechten Weise, in die Philosophie "hineinzukommen".)

Die "erste, ständige und letzte" Aufgabe der Auslegung besteht darin, "sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriff vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern." - Hier finden wir also wieder die Begründung für Heideggers oft "merk-würdige" Begriffswahl: Dadurch sollen die "Volksbegriffe" (also die allgemein üblichen Begriffe) vermieden werden und die Sachen selbst in den Blick kommen.




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zuletzt bearbeitet 06.12.2011 16:52 | nach oben springen

#122

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 07.12.2011 14:49
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Roquairol


Das Dasein ist Möglichsein, gerade weil wir keine Maschinen sind, die morgens um Sieben gedankenlos-roboterhaft aufstehen. Selbst wenn wir "müssen", geht dem Aufstehen ein entsprechender Beschluß voran: "So, jetzt stehe ich auf, in einer Sekunde." Das heißt, wir werfen uns selbst ein Stück voraus in die Zukunft (auch wenn es nur eine Sekunde ist), wir ent-werfen uns. Deshalb nennt Heidegger die existenziale Struktur des Verstehens den "Entwurf". Dies betrifft kleinste Alltagsentscheidungen genauso wie den großen Lebensentwurf.



Danke. So kann ich das verstehen. Übrigens empfehle ich, wenn jemand einen Kommentar zum Heidegger schreiben möchte, in erster Linie mit Analogien zu arbeiten, dann versteht das jeder, der sich morgens eine Bildzeitung kauft oder zum Bäcker geht.

Zitat von Roquairol
Heidegger nennt "Auslegung" das Verstehen der Umsicht, die ein Etwas in seinem "Um-zu ..." versteht. Ein in dieser Weise verstandenes und ausgelegtes Etwas kann also mit "es ist zum ..." benannt werden.
Beispiel: Ein Archäologe gräbt in einer antiken Stadt einen seltsamen Eisengegenstand aus, den er noch nie gesehen hat. Auch andere Forscher kennen das Ding nicht. Es bleibt so völlig unverstanden, ein Rätsel. Bis dann eines Tages jemand durch weitere Funde den Geistesblitz bekommt: "Das Ding ist zum Oliven ernten."



Ist "Auslegung" im Verstehen mit der Umsicht so zu verstehen, dass, wie in dem Beispiel mit dem Archäologen "Auslegung" nur geht, wenn man umsichtig in der Welt ist, auf deutsch, wenn man das, was ausgelegt wird, in Beziehung setzen kann zu anderem in der Welt, dass es eben erst im Bezugsrahmen mit anderen Dingen ausgelegt werden kann?




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zuletzt bearbeitet 07.12.2011 14:58 | nach oben springen

#123

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 07.12.2011 23:07
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Martinus

Ist "Auslegung" im Verstehen mit der Umsicht so zu verstehen, dass, wie in dem Beispiel mit dem Archäologen "Auslegung" nur geht, wenn man umsichtig in der Welt ist, auf deutsch, wenn man das, was ausgelegt wird, in Beziehung setzen kann zu anderem in der Welt, dass es eben erst im Bezugsrahmen mit anderen Dingen ausgelegt werden kann?



Hallo Martinus,

ja, ich denke, man kann das so sagen - mit der Ergänzung, dass jene Bestimmung "es ist zum ..." eine ganz bestimmte Beziehung in der Welt ist. Also nicht jedes In-Beziehung-Setzen ist Auslegung (oder?), sondern speziell dasjenige, das auf die Beziehung "es ist zum" zielt.

Liebe Grüß,
Roq




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#124

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.12.2011 01:07
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Wir kommen jetzt mit § 33 zum Themenkomplex "Sprache" und damit zusammenhängend "Wahrheit" - dies sind zentrale Themen Heideggers nicht nur in SuZ, sondern auch darüber hinaus, wie spätere Werktitel wie "Vom Wesen der Wahrheit", "Platons Lehre von der Wahrheit" oder "Unterwegs zur Sprache" zeigen.

In § 33 geht es um die Aussage, die von der Auslegung abgeleitet wird.

Heidegger unterschiedet drei Bedeutungen der Aussage:
1. Aussage als Aufzeigung im Sinne der griechischen "apóphansis", was Heidegger übersetzt mit "Seiendes von ihm selbst her sehen lassen". Den Begriff Apophansis bzw. apophantisch müssen wir uns einprägen, denn er wird noch öfters auftauchen.
2. Aussage als Prädikation - von einem "Subjekt" wird ein "Prädikat" ausgesagt.
3. (mit den ersten beiden Bedeutungen zusammenhängend) Aussage als Mitteilung, Heraussage - Mitsehenlassen des (im Sinne der erste Bedeutung) Aufgezeigten.
Die Seinsqualität der Aussage ist nicht zu verachten, denn durch die Mitteilung teile ich mit anderen ein Verhältnis zu Seiendem, ohne daß ich es selbst in der Nähe haben muß: "Auch das Hörensagen ist ein In-der-Welt-sein und Sein zum Gehörten."

Was Heidegger über Geltung und Urteil schreibt, können wir hier vernachlässigen, es geht, kurz gesagt, um Heideggers Verhältnis zur traditionellen Aussagenlogik, aber dies würde hier zu weit führen, zumal die Aussagenlogik heute schon wieder ganz woanders ist (s. hier). Heidegger sieht das Problem darin, daß der ontologische Status entsprechender Aussagen ungeklärt ist und innerhalb der Aussagenlogik auch nicht geklärt wird.

Heidegger faßt seine drei Bedeutungen zusammen: "Aussage ist mitteilend bestimmende Aufzeigung."
Was hat dies nun mit der Auslegung zu tun? "Das Aufzeigen der Aussage vollzieht sich auf dem Grunde des im Verstehen schon Erschlossenen". Sie bedarf wie die Auslegung der Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff.

Die Modifikation der Auslegung zur Aussage ist ein kompliziertes, aber wichtiges Thema. Heidegger beginnt mit einem logischen Beispielsatz: 'Der Hammer ist schwer.' Niemand außer einem Kleinkind würde diesen Satz im Alltag sagen, er ist sinn-los. Sinnvoll ist dagegen der einer konkreten Arbeitssituation entspringende Satz 'Der Hammer ist zu schwer!' - Daraus ergibt sich: "Der ursprüngliche Vollzug der Auslegung liegt nicht in einem theoretischen Aussagesatz, sondern im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeuges, 'ohne dabei ein Wort zu verlieren.'" Die Auslegung geschieht also eigentlich "ohne Worte".

Wie wir wissen, ist der Hammer zunächst zuhandenes Zeug. Wenn er aber Gegenstand einer Aussage wird, dann vollzieht sich die entscheidende Modifikation: "Das zuhandene Womit des Zutun-habens, der Verrichtung, wird zum "Worüber" der aufzeigenden Aussage."
Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff der Aussage zielen nie auf Zuhandenes, sondern immer nur auf Vorhandenes. Dadurch wird der Hammer als Zuhandenes verhüllt und als Vorhandenes entdeckt.
Die Als-Struktur der Auslegung wird so modifiziert: Das Aufgezeigte wird abgeschnitten von seiner Umweltlichkeit und "in die gleichmäßige Ebene des nur Vorhandenen zurückgedrängt". Nur dadurch, daß die "Dinge" alle voneinander isoliert und "gleich-gültig" betrachtet werden, wird Aussage möglich, und das ist auch der Vorzug der Aussage, denn dadurch gewinnt sie "die Möglichkeit puren hinsehenden Aufweisens."

So kommt Heidegger zu der Unterscheidung des ursprünglichen "Als" der umsichtig-verstehenden Auslegung, das er das existenzial-hermeneutische "Als" nennt, vom apophantischen "Als" der Aussage.

Am Ende von § 33 geht es darum, daß in der Philosophiegeschichte, angefangen bei den Griechen, der "Logos", also die Sprache, immer als ein Vorhandenes interpretiert worden ist. Dies hat das wahre Verständnis verbaut.
Aber ich glaube, wir brauchen hier nicht ins Detail zu gehen. Im wesentlichen geht es Heidegger hier nur darum, "mit dem Nachweis der Abkünftigkeit der Aussage von Auslegung und Verstehen deutlich zu machen, daß die 'Logik' des lógos in der existenzialen Analytik des Daseins verwurzelt ist."




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#125

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.12.2011 18:24
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Meine Gedanken zur Aussage und zum Beispiel des Hammers waren folgende:
Wenn wir sagen: „Der Hammer ist schwer“, dann haben wir bereits vorher logisch verstanden, was sowohl der Hammer ist (der durch Aussage von Zuhandenem wieder zu Vorhandenem wird, also ungebraucht sichtbar) und was Schwere ist. Trotzdem besagt dieser Satz eigentlich nichts Genaues. Gut, der Hammer ist schwer. Man will also vermitteln, dass er nicht gerade leicht und die Arbeit mit ihm anstrengender ist. Der Satz ist damit unmissverständlich „wahr“. Wenn wir aber sagen: „Der Hammer ist zu schwer“, wird daraus eine Aussage, auf die Auslegung erfolgt. Statt darüber nachzudenken, warum der Hammer zu schwer ist, erscheint er uns stattdessen als ungeeignet. Wir legen ihn weg und suchen uns einen anderen. Die Reaktion auf die Aussage findet also ohne Worte statt. Auch diese Reaktion ist Auslegung, jedoch eben wortlos. Hier wird der Hammer nicht mehr als Zuhandenes gesehen, sondern als Vorhandenes, als Träger von Eigenschaften.




Art & Vibration
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#126

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.12.2011 22:51
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Hallo Taxine,
ich denke, Heideggers Punkt ist eigentlich ein anderer: Der Satz "der Hammer ist schwer" ist einfach völlig welt-fremd und sinn-los, ein Satz, den sich Theoretiker ausdenken, um damit irgendetwas zu demonstrieren (Aussagelogik, Subjekt-Prädikat-Objekt o.ä.) - den aber kein Mensch im Alltag wirklich sagt. Denn es gibt keine Situation, in der dieser Satz einen Sinn ergeben würde. Anders dagegen der Satz "der Hammer ist zu schwer", der einer konkreten Arbeitssituation entspringt. Hier liegt der eigentliche Ursprung der Auslegung: Im umsichtigen Umgang mit dem zuhandenen Zeug, wo wir eigentlich ohne Worte auskommen und die Worte nur auf den konkreten Zweck zielen, einen Wechsel des Werkzeugs zu bewirken.
In der apophantischen Aussage dagegen, die gerade nicht ohne Worte auskommt, wird der Hammer deshalb als Zuhandenes verhüllt und als Vorhandenes enthüllt. "Das zuhandene Womit des Zutun-habens, der Verrichtung, wird zum "Worüber" der aufzeigenden Aussage."

Liebe Grüße




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#127

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 13.12.2011 15:39
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Roquairol
1. Aussage als Aufzeigung im Sinne der griechischen "apóphansis", was Heidegger übersetzt mit "Seiendes von ihm selbst her sehen lassen". Den Begriff Apophansis bzw. apophantisch müssen wir uns einprägen, denn er wird noch öfters auftauchen.



Was bedeutet der Satz "Seiendes von ihm selbst her sehen lassen".?

In der Aussage "Der Hammer ist schwer" fehlt der Bezug zur Umwelt. Schwerer als...oder "Die anderen Hammer haben weniger Gewicht."
Jetzt fällt mir ein, bei Heidegger hängt auch alles zusammen (Bezugsganzheit), wie bei Damásio Körper /Geist/ Umwelt ja auch zusammenhängen.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 13.12.2011 15:40 | nach oben springen

#128

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 14.12.2011 11:13
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Hallo Roq, vielen Dank für den Hinweis. Dann ist der Satz "Der Hammer ist schwer." lediglich eine leere Aussage? Warum sagt ein Mensch, der mit Zeug arbeitet, diesen Satz nicht? Wenn man "Hammer" nun durch z. B. ein Werkzeug von hohem Gewicht ersetzt, wie "Motorsäge", und diese ist schwerer als angenommen, dann sagt der Mensch doch: "Die Säge ist (aber) schwer."? Er möchte damit nicht immer ausdrücken, dass er das Werkzeug wechseln muss, nur dass es anstrengend ist, damit zu arbeiten.


Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 15.12.2011 01:37 | nach oben springen

#129

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 17.12.2011 15:41
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

§34
Zunächst war ich in diesem Paragraphen etwas irritiert, als Heidegger erklärte, Rede würde Verstehen mit sich bringen.
Wenn Heidegger sagt, dass in der Rede je schon Verständnis und Auslegung liegt (siehe § 34 & 35), dann bezieht sich das wohl doch eher auf denjenigen, der spricht. Denn der, der zuhört, der mag die Rede als Wörter verstehen, so manchen Inhalt, aber doch nicht im Ganzen? Ausgerechnet Heidegger setzt dies voraus, der eine eigene Sprache erfindet, um ganz einfache Dinge darzulegen. Wenn er also zu uns spricht bzw. redet, dann verstehen wir grundsätzlich seine Auslegung? Oder deuten wir erst einmal, was uns seine Worte vermitteln sollen? Hier stimme ich mit Heidegger nicht so ganz überein oder verstehe ihn womöglich falsch (was wiederum ein Hinweis auf die Richtigkeit meiner Überlegung wäre ). Wenn wir zuhören, wenn einer redet, sind wir dagegen durchaus bei dem, wovon er redet. Aber das ist ja noch kein Verstehen selbst, sondern nur die Richtung, in die das Gespräch führt. Natürlich hören wir nicht nur Töne, sondern unverständliche Worte. Auch hier liegt ein Verweis darauf, dass Verstehen nicht immer möglich ist. Wenn er hiermit natürlich meint, dass bei etwas Ausgesprochenem immer schon ein Vor-Verständnis von Welt, Dasein usw. vorhanden sein muss, dann kann ich das wieder besser einordnen und dem auch zustimmen.
Auch die Geräusche, die er anspricht, die nie Geräusche sind, sondern immer etwas Bestimmtes, ein vorüberfahrendes Auto, das Rauschen des Meeres, finde ich zu unklar ausgelegt. Denn sind Geräusche zu weit weg, können wir sie nicht zuordnen. Sie dringen dann tatsächlich nur als reines Geräusch an unser Ohr. (Vgl. S. 164 oben)

Dass Dasein sich durch Rede mitteilt, also in der Rede etwas geteilt wird, ist dagegen gut vermittelt. Daher sprechen wir von Mitteilen. Auch dass Rede, also das Ausgesprochene bereits draußen ist, im Da ist, denn wäre es nicht so, würde ich meine Gedanken für mich behalten und sie nicht aussprechen. Ich bin also bereits draußen und teile mich mit. Hier kommt das räumliche Dasein wieder zur Geltung.

In § 35 erklärt sich Heidegger aber in Hinblick auf Geredetes genauer. Er sagt hier, dass die Rede nicht so sehr in ihrem Seienden begriffen, sondern als Geredetes erfasst wird. Dabei wird das Worüber nur andeutungsweise verstanden, aber man versteht dasselbe in derselben Durchschnittlichkeit.

Gerede zeigt sich im Nachplappern oder human ausgedrückt, im Weiterreden. Dadurch gerät Gerede in Bodenlosigkeit. Häufig wird behauptet: Die Sache ist so, weil man es sagt. Manche glauben darin, Beweis genug ausgesprochen und gefunden zu haben. Das erlebe ich öfter, wenn sich Menschen auf die Ansicht der Masse beziehen und sagen, wenn es so viele sagen, kann es ja nicht verkehrt sein, was natürlich lächerlich ist, da diese Massenansichten sich ja eben durch Bodenlosigkeit und Weiterplappern formen. Dagegen hat sich ganz im Gegenteil nur zu häufig gezeigt, dass die Ansicht einer Masse eher verschleiert und das Tatsächliche verdeckt. Viele übereinstimmende Ansichten bedeuten daher noch lange nicht Wahrheit. (Das Gleiche gilt selbstredend für einen, der aus der Masse tanzt und etwas anderes behauptet, nur um gegen die Ansicht der Masse anzugehen. Auch seine Ansicht kann nicht Wahrheit beinhalten, es sei denn, er kann sie mit Fakten unterlegen.)
Heidegger sagt richtig, dass wir nicht nur im Gerede festsitzen, sondern auch im Geschreibe. Das meiste Wissen eignen wir uns aus Büchern an, aus bereits Geschriebenem, das wir übernehmen und lernen.
Dagegen ist schwer, das Gelernte gegen einen neutral offenen Blick zu vertauschen. Einmal, weil es so schwer war, es zu lernen, zum anderen, weil es sich als Überzeugung festgesetzt hat. Die meisten Menschen sitzen damit in sich selbst fest, tun sich schwer mit neuen Ansichten, die sich gegen das, was sie wissen (oder vielmehr zu wissen glauben), richten und können nicht von dem lassen, was sie einst gelernt haben. Sie bauen darauf, zu verstehen, während es wichtig wäre, noch einmal ganz neu auf alles zu blicken und sein eigenes Denken immer wieder neu zu hinterfragen. Ihnen ist wichtiger, dass sie etwas verstanden haben und es interessiert sie nicht, ob neue Erkenntnisse oder ganz einfach Lüge darin enthalten ist. Sie geben auch nicht zu, etwas nicht zu wissen oder zu verstehen und beharren lieber auf ihre Ansicht, denn die glauben sie ja bestätigt durch viele Ansichten. Was sich durch das Angelesene und Gelernte bildet, ist die Unmöglichkeit zu unterscheiden, was tatsächlich gedanklich selbst erschlossen und was einfach nur nachgeredet wurde, ohne es selbst zu vertiefen.

Die Bodenlosigkeit des Geredes versperrt einem natürlich nicht den Zugang zur Masse und Öffentlichkeit, sondern begünstigt ihn. Im allgemeinen Gleich-Verstehen kann man nicht scheitern, sondern kann immer sagen: Ich habe verstanden. Gerede entbindet von der Gefahr des echten Verstehens. Heidegger sagte am Anfang dieses Kapitels, er würde keine Kritik üben, sondern lediglich sichtbar machen wollen. Dennoch finde ich in seinen Ansichten viele meiner eigenen bestätigt, die sich durchaus kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Dass dies Normalität, also die Realität des Daseins ist, dass es im Man festsitzt oder in dieses geworfen wird, ist natürlich eine Tatsache. Dadurch wird das Dasein entwurzelt, treibt der Bodenlosigkeit zu und bemerkt es durch die Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit nicht einmal.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 17.12.2011 15:52 | nach oben springen

#130

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 17.12.2011 21:17
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Martinus

Was bedeutet der Satz "Seiendes von ihm selbst her sehen lassen".?



Hallo Martinus,

der Satz verweist auf Heideggers Methode der Phänomenologie. Ein Phänomen ist nach Heidegger das, was "sich an sich selbst sehen lässt" (siehe irgendwo weiter oben).

Taxine, ein interessantes Ergebnis der Hirnforschung besagt, dass die Hirnregion, die bei der Herstellung eines Faustkeils aktiv wird, identisch ist mit der Region, in der die Sprache entstanden ist. Also Sprache ist engstens mit handwerklicher Arbeit verbunden. Das bedeutet aber auch, dass sie einen direkten praktischen Arbeitszweck haben muss. Den Satz "Die Motorsäge ist schwer" könnte bestenfalls ein Azubi sagen, der zum erstenmal damit arbeitet, für den das Gewicht der Säge also eine Überraschung bedeutet. Aber auch in diesem Fall sollte er mit dieser Aussage einen praktischen Zweck verfolgen (z.B. andeuten wollen, dass ihm die Säge zu schwer ist). Wenn er wirklich nur dem Gegenstand eine Eigenschaft zuordnen will, dann ist dies nichts als - "Gerede".




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#131

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 17.12.2011 21:35
von Roquairol • 1.072 Beiträge

§ 34:
Von der Aussage kommen wir nun zur Sprache. "Das existenzial-ontologische Fundament der Sprache ist die Rede."
Die Rede wiederum "ist mit Befindlichkeit und Verstehen gleichursprünglich." Sie ist "die Artikulation der Verständlichkeit".
Das Verstehen geht also der Rede voraus. "Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen."

Wie verhält sich nun die Rede zur Sprache? Die Sprache ist die "Wortganzheit, als in welcher die Rede ein eigenes 'weltliches' Sein hat." Die Sprache ist als innerweltlich Seiendes wie ein Zuhandenes vorfindlich. (Wobei die eigentliche Seinsart der Sprache höchst unklar ist, wie Heidegger am Ende des Paragraphen feststellen wird.)

Zunächst will Heidegger die Struktur der Rede als solcher herausarbeiten: Reden ist immer "Rede über ...", d.h. die Rede enthält ein "Geredetes".
Dabei ist die konkrete Mitteilung oder Aussage nur ein Sonderfall der Rede - meistens ist das Geredete im Alltag etwas anderes als eine solche bestimmende Aussage.

"Mitteilung" im ontologischen Sinne bezieht sich direkt auf das Mitsein mit anderen. Durch die Rede "teile" ich das Mitsein mit dem anderen Mitdasein.

Die Rede hat den Charakter des Sichaussprechens. Das soll aber nicht heißen, daß ein "Inneres" gegen ein "Draußen" abgekapselt würde, sondern die Rede ist immer schon "draußen", nämlich "in der Welt". Sichaussprechen heißt, die jeweilige Weise der Befindlichkeit mitzuteilen, was vor allem auch durch die "Art des Sprechens" (Modulation, Tempo usw.) geschieht. Die Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten der Befindlichkeit kann auch eigenes Ziel der "dichtenden Rede" werden.

Rede ist nicht nur eine bestimmte Form der Mitteilung ist - sie ist "die" Form der Mitteilung. Sie ist von Mimik, Gestik etc. begleitet, so wie von den von Heidegger ausdrücklich genannten "Tonfall, Modulation" usw.
Natürlich kann Gestik allein auch eine vollwertige Sprache sein. Wenn Heidegger schreibt, daß ein Stummer keine Möglichkeit hat, zu schweigen (und zu reden), dann trifft dies heute nicht mehr zu, weil es inzwischen die Gebärdensprache gibt.

Zusammenfassend wird die Rede definiert als "bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins". Ihre konstitutiven Momente sind die zuvor genannten: das Worüber der Rede, das Geredete als solches, die Mitteilung und die Bekundung (= das Sichaussprechen). Es ist wichtig, diese konstitutiven Momente nicht als bloße Eigenschaften der Sprache zu sehen, sondern als "existenziale Charaktere, die so etwas wie Sprache ontologisch erst ermöglichen". Wissenschaftliche Herangehensweisen scheitern an dem Versuch, das "Wesen der Sprache" zu erfassen, weil ihnen das Verständnis für diese ontologisch-existenziale Ganzheit fehlt.

Zum Reden gehört auch das Hören, auf dem das Reden wesentlich beruht. Hören heißt Verstehen. Im Aufeinander-hören wird das Mitsein ausgebildet.

Heidegger unterscheidet Hören und Horchen. Hören bezieht sich auf Sprache, Horchen auf andere Laute. Interessant für das Verständnis von Heideggers "Erkenntnistheorie" ist die Feststellung, daß wir beim Horchen nie reine Lautkomplexe hören, sondern "das Auto" oder "den Regen". Natürlich sind Heidegger die physiologischen Vorgänge der Wahrnehmung klar: Akustische Schwingungen werden vom Ohr aufgefangen, und das Gehirn schlußfolgert daraus, das es regnet. Aber dies ist nicht das Phänomen, das wir erleben: Wir hören nicht irgendwelche abstrakten Geräusche und kombinieren dann auf dieser Grundlage, daß es wohl regnet. Sondern wir hören unmittelbar "den Regen".

Das gilt auch für das Hören von Sprache: Wir hören nicht zunächst, daß jemand etwas sagt, und verstehen in einem zweiten Schritt, was er meint. Sondern das Hören und das Verstehen der Sprache ist ein und dasselbe.

Heidegger meint, daß ein tiefes Gespräch aus Phasen der Rede und Phasen des Schweigens (in denen jeweils über das Geredete nachgedacht wird) besteht, und nicht aus einem unentwegten Geplapper.

Das Dasein hat Sprache - d.h., Dasein als In-der-Welt-sein mit Befindlichkeit und Verstehen ist immer schon redendes Dasein. Dies bedeutet nicht nur die akustische Verlautbarung (wie bei Tieren), "sondern daß dieses Seiende ist in der Weise des Entdeckens der Welt und des Daseins selbst". (Vielleicht besteht hier noch Diskussionsbedarf.)

Heidegger kritisiert die traditionelle Sprachwissenschaft, weil sie sich zu eng an die philosophische Disziplin der Logik gebunden hat. Für ein Verständnis notwendig ist jedoch zunächst, die Rede als Existenzial zu erkennen, und die Verwurzelung der Bedeutungslehre in der Ontologie zu verstehen.

Am Ende des Paragraphen steht die offene Frage, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukomme.




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#132

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.12.2011 15:19
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Roquairol,

Zitat von Roquairol

Ein Phänomen ist nach Heidegger das, was "sich an sich selbst sehen lässt" (siehe irgendwo weiter oben).


Ja. Ich erinnere mich.

Zitat von Roquairol
Heidegger unterscheidet Hören und Horchen. Hören bezieht sich auf Sprache, Horchen auf andere Laute. Interessant für das Verständnis von Heideggers "Erkenntnistheorie" ist die Feststellung, daß wir beim Horchen nie reine Lautkomplexe hören, sondern "das Auto" oder "den Regen". Natürlich sind Heidegger die physiologischen Vorgänge der Wahrnehmung klar: Akustische Schwingungen werden vom Ohr aufgefangen, und das Gehirn schlußfolgert daraus, das es regnet. Aber dies ist nicht das Phänomen, das wir erleben: Wir hören nicht irgendwelche abstrakten Geräusche und kombinieren dann auf dieser Grundlage, daß es wohl regnet. Sondern wir hören unmittelbar "den Regen".



Wir hören unmittelbar "den Regen", weil wir schon oft Regen gehört haben, und wir das Geräusch des Regens kennen. Zu den Vorstellungsbilern, die unser Gehirn produziert, speichern sich auch akustische Geräusche. Wenn ich heute die Stimme von Willy Brandt hören würde, würde ich seine Stimme erkennen, ich kann mir sogar seine Stimme noch vorstellen.

Zitat von Roquairol
Am Ende des Paragraphen steht die offene Frage, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukomme.



Ist "Zuhandenes" eine Seinsart?
Die Sprache müsste etwas Zuhandenes sein. Wir können sie zwar nicht wie ein Hammer zur Hand nehmen, die Sprache ist aber auch eine Art Werkzeug. Wir brauchen sie nicht zum Herstellen eines Tisches, dafür aber zum Herstellen einer Verständigung.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 18.12.2011 15:20 | nach oben springen

#133

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.12.2011 20:16
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von Roquairol

Taxine, ein interessantes Ergebnis der Hirnforschung besagt, dass die Hirnregion, die bei der Herstellung eines Faustkeils aktiv wird, identisch ist mit der Region, in der die Sprache entstanden ist. Also Sprache ist engstens mit handwerklicher Arbeit verbunden. Das bedeutet aber auch, dass sie einen direkten praktischen Arbeitszweck haben muss. Den Satz "Die Motorsäge ist schwer" könnte bestenfalls ein Azubi sagen, der zum erstenmal damit arbeitet, für den das Gewicht der Säge also eine Überraschung bedeutet. Aber auch in diesem Fall sollte er mit dieser Aussage einen praktischen Zweck verfolgen (z.B. andeuten wollen, dass ihm die Säge zu schwer ist). Wenn er wirklich nur dem Gegenstand eine Eigenschaft zuordnen will, dann ist dies nichts als - "Gerede".



Ah... das ist einleuchtend. Vielen Dank.




Art & Vibration
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#134

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 19.12.2011 00:02
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Martinus, wenn die Sprache etwas Zuhandenes wäre, müssten wir sie schon anfassen können. Das können wir nicht, und deshalb sieht sich Heidegger auch nicht in der Lage, die Seinsart der Sprache zu bestimmen.

Kommen wir also zu Abschnitt B dieses Kapitels "Das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins".

Heidegger stellt fest, daß in den letzten Paragraphen (notwendigerweise) von der ursprünglichen Absicht, das Dasein in seiner Alltäglichkeit zu interpretieren, abgegangen worden war. Es gilt nun, die Alltäglichkeit wieder in den Blick zu bekommen und nach den alltäglichen Erscheinungsformen von Befindlichkeit, Verstehen, Reden und Auslegen zu fragen.

In diesem Sinne widmet sich § 35 "Das Gerede" der alltäglichen Ausformung von Rede, Verstehen und Auslegen.
Wie wir oben gesehen haben, will die Mitteilung der Rede den Hörenden "in die Teilnahme am erschlossenen Sein zum Beredeten der Rede bringen". So weit, so gut. Nun ist es aber eine Eigenheit der Sprache, daß sie auch verstanden werden kann, ohne daß der Hörende sich in diese Teilnahme am Sein bringt. (Und gerade das unterscheidet Sprache eben von den Lautäußerungen oder Zeichen von Tieren.) Man versteht nicht (oder nur "ungefähr") das beredete Seiende, sondern nur das Geredete als solches. Das Reden verliert auf diese Weise den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden.
Dieses Reden ohne primären Seinsbezug nennt Heidegger "Gerede" (bzw. "Geschreibe", wenn es schriftlich formuliert ist). Es breitet sich aus durch Weiter- und Nachreden.
Das Gerede verfehlt nicht nur das Verstehen des primären Seins, sondern es legt überhaupt keinen Wert mehr darauf.
Das Erschließen wird im Gerede zum Verschließen, und zwar nicht durch eine bewußte Täuschungsabsicht, sondern allein schon durch den Prozeß des Weitersagens ohne Seinsbezug (wie bei dem Spiel "Stille Post").

Das Gerede ist die alltägliche Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst (hier haben wir jetzt doch einen Hinweis auf die Entwicklung des Daseins!). Das Dasein kann sich ihm nie völlig entziehen, sondern jedes echte Verstehen vollzieht sich gerade gegen das Gerede, und von ihm ausgehend.
"Das im Gerede sich haltende Dasein ist als In-der-Welt-sein von den primären und ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt, zum Mitdasein, zum In-sein selbst abgeschnitten." Dieses entwurzelte Dasein ist also nicht das eigentliche Dasein, sondern das Man. Die Entwurzelung selbst wird ihm nicht bewußt, weil es das Gerede es in eine Schein-Sicherheit hüllt.




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#135

RE: Martin Heidegger

in Sachen gibt's - Sachbuch 20.12.2011 21:58
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Kommen wir also zu § 36 "Die Neugier".
Neugier ist eine alltägliche Seinstendenz, die mit dem "Sehen" zusammenhängt. Sehen wiederum wird immer wieder als Synonym für Erkennen überhaupt verwendet, so schon bei Aristoteles und Augustinus.
Wir hatten anfangs gesagt, daß die alltägliche Sichtweise des Daseins die Umsicht ist. Wenn nun das Besorgen zur Ruhe kommt, wird die Umsicht frei, sie ist "nicht mehr an die Werkwelt gebunden". Stellen wir uns einen Mann vor, der vor seinem Haus Holz hackt. Wenn er damit fertig ist, kann er sich auf eine Bank setzen und seinen Blick durch die Nachbarschaft schweifen lassen. "Im Ausruhen legt sich die Sorge in die freigewordene Umsicht."
"Das Dasein sucht das Ferne, lediglich um es sich in seinem Aussehen nahe zu bringen." Das klingt so, als hätte Heidegger schon 1926 das Fernsehen gekannt. Unser Fernsehen ist das perfekte Beispiel für Heideggers "Neugier".

"Nicht um zu erfassen und um wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses Sehens, sondern um Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt." Das ist der entscheidende Punkt bei der Neugier - man beschäftigt sich nicht mit etwas, um es zu verstehen, um "in ein Sein zu ihm zu kommen", sondern nur, um es zu "sehen". Der einzige Sinn dieses Sehens ist die Zerstreuung. Deshalb ist es auch durch ein spezifisches "Unverweilen" charakterisiert (das typische "Zappen" beim Fernsehen).
Unverweilen und Zerstreuung fundieren den dritten Wesenscharakter der Neugier, den Heidegger die "Aufenthaltslosigkeit" nennt. "Die Neugier ist überall und nirgends. Dieser Modus des In-der-Welt-seins enthüllt eine neue Seinsart des alltäglichen Daseins, in der es sich ständig entwurzelt."

Neugier und Gerede sind eng miteinander verbunden und reißen sich gegenseitig mit. Sie "geben sich, das heißt dem so seienden Dasein, die Bürgschaft eines vermeintlich echten, 'lebendigen Lebens'."

Ich möchte noch anmerken, daß das Fernsehen nicht prinzipiell nur der "Neugier" dienen muß. Ein guter Film kann durchaus Heideggers Kunstphilosophie entsprechen, wonach die Kunst ein Weg zum Seinsverständnis ist (auch wenn Heidegger sich mit Film als Kunstform nicht ausdrücklich beschäftigt hat). Aber die intensive Versenkung in einen guten Film ist wohl auch nicht die durchschnittliche Weise, wie das Fernsehen im Alltag genutzt wird.




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