HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 18:03von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Roquairol,
Zitat von Roqairol
Nach der Selbst-Findung gibt es das Man nicht mehr, auch nicht außerhalb von "mir"!
Inwiefern? Wenn Dasein eigentlich geworden ist, kann es sich doch trotzdem noch entscheiden, ob es zeitweise wieder im Man aufgehen möchte oder nicht?
Es kann lediglich nicht mehr uneigentlich werden, ein Man-selbst, es kann sich aber doch zu einer kurzzeitigen und gewollten "Uneigentlichkeit" entschließen?
Oder meinst du, dass Dasein als eigentliches Dasein nicht mehr verfallen sein kann, da es seine Verlorenheit im Man durchschaut und überwunden hat?
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 21:54von Roquairol • 1.072 Beiträge
Ja, war vielleicht missverständlich ausgedrückt, es ist keine zeitliche Abfolge gemeint - natürlich kann das Dasein immer wieder dem Man verfallen. Nur in dem Moment, in dem es eigentlich geworden ist, gibt es kein Man mehr irgendwo "außerhalb", sondern das Man wurde transformiert.
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 24.11.2011 11:30von Martinus • 3.195 Beiträge
Fünftes Kapitel
Das In-Sein als solches
§28. Die Aufgabe einer schematischen Analyse des In-Seins
Dieser Paragraph bereitet nur auf kommende Paragraphen vor. Bisher wurde das Dasein als In-der Welt sein analsiert, der Grundverfassung des Daseins. Jetzt geht es darum, sich mit „der einheitlichen, ursprünglichen Struktur des Seins des Daseins", also mit der Ontologie, sich zu beschäftigen, und das „zu sein“ ontologisch zu bestimmen. Das In-Sein ist eine „wesenhafte Seinsart dieses Seienden selbst“ (Seite 132).
Also, was macht es eigentlich das „zu sein“ aus. Heidegger meint damit das „Da“. Ein „Da“ setzt hier und dort voraus. „Hier „ und Dort“ als „Bestimmtheiten innerweltlicher Begegnung“, sind nur mit einem „Da“ möglich, d.h. es ist etwas „Seiendes“, was einfach da ist. Es hat „zu sein“.
Zusammenfassend formuliert Heidegger das so:
Zitat von Heidegger
Der Ausdruck „Da“ meint diese wesentliche Entschlossenheit. Durch sie ist dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da – sein von Welt für es selbst „da“
. (Seite 132). Ein schöner Heidegger-Satz, weil er den ganzen Paragraphen zusammenfast. Inzwischen bin ich ja in der Gewöhnungskur heidegg'scher Sätze im leichten Fortschritt begriffen.
Und dann noch mal kurz und bündig:
Zitat von Heidegger
Das Dasein ist eine Entschlossenheit.
(Seite 133).
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 24.11.2011 13:19von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
hier ist ganz wichtig zu beachten, dass Heidegger von "Erschlossenheit" redet, noch nicht von Entschlossenheit. Dazu kommen wir noch, denn Dasein ist auch entschlossen. Aber in deinen zitierten Sätzen ist es die Erschlossenheit als eine Zusammenfassung des räumlichen Daseins und sein Da.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 24.11.2011 14:09von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Hallo Martinus,
hier ist ganz wichtig zu beachten, dass Heidegger von "Erschlossenheit" redet, noch nicht von Entschlossenheit. Dazu kommen wir noch, denn Dasein ist auch entschlossen. Aber in deinen zitierten Sätzen ist es die Erschlossenheit als eine Zusammenfassung des räumlichen Daseins und sein Da.
ups, da hatte sich ein Fehler in meinem Kopf festgesetzt, sorry. Heidegger bezieht sich auf die Räumlichkeit, ja. Hier das betreffende Zitat (diesmal richtig):
Zitat von Heidegger
"Hier" und "Dort" sind nur möglich in einem "Da", das heißt wenn ein Seiendes ist, das als Sein des "Da" Räumlichkeit erschlossen hat.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 27.11.2011 15:52von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Befindlichkeit und Verstehen charakterisieren als Existenzialien die ursprüngliche Erschlossenheit des In-der-Welt-seins. In der Weise der Gestimmtheit „sieht“ das Dasein Möglichkeiten, aus denen her es ist. (Vgl. S. 148)
Diese beiden Sätze fassen schön zusammen, worum es in den Paragraphen 28 bis 31 geht und werden nun einzeln auseinander genommen. Wir haben gesehen, dass das Dasein räumlich ist, kein subjektiver Punkt, sondern immer das, was es zu besorgen hat. Daher ist Seiendes auch je sein Da, also der Raum, der von ihm erschlossen ist.
Um das Da sein zu können, gibt es die gleichursprünglich konstitutiven Weisen zu sein, die als Befindlichkeit und Verstehen definiert werden, als Existenzialien des Daseins. Diese sind, wie sich später zeigen wird, bestimmt durch die Rede.
Die ontologisch so bezeichnete Befindlichkeit ist nichts anderes, als die ontisch bekannte Stimmung oder auch Gestimmtheit genannt. Stimmung ist unberechenbar. Häufig wird sie mit inneren Gefühlen gleichgesetzt, Heidegger meint hier aber etwas anderes. Er sagt, dass Dasein immer schon gestimmt ist, eben weil Stimmungen so leicht und unkontrolliert umschlagen können.
Gefühle betreffen konkretes Seiendes, z. B. Wut oder Traurigkeit, die sich auf etwas richten, Stimmungen dagegen entstehen und vergehen, richten sich auch nicht auf etwas bestimmtes Seiendes, sondern allgemein auf die Welt. Wir sind auf einmal von Angst oder Langweile überwältigt, ohne genau angeben zu können, wie oder woher sie entstanden ist. Heidegger wird sich noch genauer der Furcht und Furchtbarkeit zuwenden, mit denen Dasein konfrontiert ist, die sogar ein Teil seines Seienden ausmachen.
Dies ergibt sich daraus, weil Dasein in die Welt geworfen ist. Es kann in der gleichgültigsten Alltäglichkeit darauf gestoßen werden, dass es ist und zu sein hat. Dieses steht dem Dasein als nackte Erkenntnis gegenüber, ohne dass es direkt zuordnen kann, woher und wohin es sich richten muss. Dasein ist also und hat zu sein, darum kann es nicht einfach ruhen oder abwarten, bis seine Zeit vergeht. Es hat zu sein, daher zu handeln. Darum ist es auch immer mehr als es ist.
Allerdings weicht Dasein den in Stimmung erschlossenen Sein häufig aus.
Vor allem anderen weiß das Dasein, dass es so ist, und das macht seine Befindlichkeit aus, lenkt seine Stimmung als ein schon vorab Seiendes. Es ist also damit schon gefunden, aber nicht als ein Suchen, sondern als eine Flucht. Das heißt, dass Dasein blickt nicht darauf, dass es in die Welt geworfen ist, sondern versucht dagegen zu wirken oder sich zumindest darüber zu täuschen oder dieser Einsicht zu entkommen. Das bedeutet auch, dass ein Dasein sich zwar über das, was es zu tun hat, auszukennen meint oder weiß, woher es kommt, das aber, würde es tiefer graben, auf ein mächtiges Rätsel trifft. Stimmung, auch wenn Dasein sie kontrollieren will und auch muss, ist darum noch lange nicht verstanden oder lässt sich als psychologisch innerlicher Vorgang abtun.
Auf Seite 136 sagt Heidegger: Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr.
Das zeigt sich wiederum in Verstimmung. „In ihr wird das Dasein ihm selbst gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die Umsicht des Besorgens wird mißleitet…“
Das Dasein wird von seiner Befindlichkeit überfallen. Heidegger sagt, dies geschieht nicht von außen oder innen, sondern sie steigt als „Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf“. Daraus wird klar, dass auch Stimmung je schon erschlossen ist. Sie ist „eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst wesenhaft in-der-Welt-sein ist“.
Daher können wir Sinn in etwas sehen, daher können wir auch Furcht empfinden oder gleichfalls Furchtlosigkeit. Nur durch dieses Gestimmtsein wird uns Bedrohliches sichtbar oder können wir es ausmachen. Genauer: die Struktur von Befindlichkeit kommt durch Furcht zum Vorschein.
Furcht gliedert sich in einem Wovor (fürchten wir uns), in das Fürchten selbst und in das Worum der Furcht. Es gibt etliche Arten, sich zu fürchten oder sogar für jemand anderen zu fürchten (befürchten), ohne dass derjenige sich selbst tatsächlich fürchtet (also ängstigt). Trotzdem sind beide Zustände gleich stark, denn es geht nicht um ein Gefühl, sondern um die Modi der Befindlichkeit.
Durch Furcht wird das Furchtbare sichtbar. Das Worum die Furcht fürchtet, ist das Dasein selbst. Auch wenn es sich z. B. um Haus und Hof fürchtet, geht es um das Dasein, denn diesem geht es (wie wir gesehen haben) in seinem Besorgen immer um sich selbst, Haus und Hof sichern dem Dasein sein Sein, daher besteht Furcht, es zu verlieren. Die Furcht kann reines Erschrecken sein, wenn z. B. etwas noch nicht, aber jederzeit eintreffen kann, kann aber auch Grauen werden, wenn Dasein auf Unbekanntes trifft oder zu Entsetzen werden, wenn etwas ganz plötzlich auftritt. All diese Modifikationen der Furcht zeigen, dass Dasein als In-der-Welt-sein furchtsam ist. Nicht einzelne Menschen fürchten sich und andere nicht, sondern Furcht ist die Möglichkeit der Befindlichkeit.
Eine andere ist das Verstehen.
Wir hatten gesehen, dass Bedeutsamkeit das ist, woraufhin Welt als solche erschlossen ist. Dasein ist dabei das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeiten ist. (144) „Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen. Das Möglichsein ist ihm selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden durchsichtig.“
Was Heidegger mit „durchsichtig“ meint, ist ganz einfach die Sicht des Daseins in seinem Verstehen, die Sicht hindurch... (also keinesfalls etwas, das verschwindet, sondern im Gegenteil, endlich sichtbar geworden ist, durch die Dinge hindurch). Sicht ist das Verstehen, nicht als Denken, sondern als das Erfassen seiner selbst in der Welt, der Welt usw.
Darin soll nicht verstanden sein, dass das Dasein sich selbst als subjektiv erfasst, sondern es ist das Verstehen der vollen Erschlossenheit seines In-der-Welt-seins, und wie Heidegger sagt: „… durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch“, daher auch „Durchsichtigkeit“ genannt. Undurchsichtigkeit wäre dann die Unkenntnis der Welt.
Darin ist enthalten, dass Verstehen auch darauf hinzielt, dass wir uns die Welt zunutze machen, auch Vorhandenes begreifen, nicht als das, was es ist, sondern entdecken als für unsere Möglichkeiten tauglich, z. B. die Natur.
Heidegger fragt, warum das Verstehen immer Möglichkeit ist. Weil Dasein sich selbst entwirft, nicht als ein ausgereift festgelegter Plan, sondern immer wieder neu.
Noch einmal als kleine Zusammenfassung von dem, was bereits im Hinterkopf sitzt: Dasein wird (gegen seinen Willen) in die Welt geworfen, weiß, dass es ist und zu sein hat, da es, weil es sich nicht selbst in sein Da gebracht hat, nie hinter die Geworfenheit zurückkommen kann. Da Geworfenheit aber nicht als Ereignis verstanden wird, das hinter dem Dasein liegt, ist Dasein in der Sorge sein ständiges „Dass“. Das bedeutet nichts anderes, als dass Dasein, da es ungefragt in die Welt gesetzt wurde – Geburt – mit diesem Sein als das Ungefragte hantieren muss, um zu sein und daraus begreifend, dass es zu sein hat. Diese Last trägt es in seiner Stimmung. Es entwirft sich auf den Möglichkeiten, in die es geworfen ist. Es verkennt aber aufgrund von Befindlichkeit auch viele seiner Möglichkeiten, muss diese erst wiederfinden und sich nach seinen Möglichkeiten entwerfen. Da Dasein ist, was es ist, ist es auch in seinen Entwürfen das, was es wird. Es entwirft sich, ohne seine Möglichkeiten ganz zu erfassen. Das Erfassen würde ihm dabei sogar seinen Möglichkeitscharakter nehmen. Nur, weil Dasein weiß, dass es zu etwas ist, kann es sich auch selbst verkennen und tut es häufig, aufgrund seiner Befindlichkeit. Daher stehen uns so viele Möglichkeiten zur Verfügung. Um sein Sein auf Möglichkeiten zu entwerfen, bedarf das Dasein dem Verstehen.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 27.11.2011 16:53von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,
danke für deinen ausführlichen Beitrag, den ich kurz überflogen habe, später noch mal gründlich lesen werde, so möchte ich erstmal, was §29 betrifft, eine grundsätzliche Frage stellen. Heidegger wiederholt mehrmals, dass er mit "Stimmung" keine seelischen Stimmungslagen meint, obwohl er im zweiten Absatz davon redet: "ungestörte Gleichmut", so kann auch ein "Abgleiten von Verstimmungen" eigentlich nur psychisch verstanden werden. Vom Wortsinn "Stimmung" gibt es sonst nur die Stimmung eines Saiteninstrumentes oder ähnliches. Aber, was Heidegger mit Gestimmtheit wirklich meint, hat sich mir aus dem Text nicht erschließen können, nur ein typischer Satz wie dieser:
Zitat von Heidegger
In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überanwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat.
Dieser Satz kann doch nur verstanden werden, wenn man weiß, was Heidegger unter "Stimmung" versteht.
Du sagst es aber och:
Zitat von Taxine
Gefühle betreffen konkretes Seiendes, z. B. Wut oder Traurigkeit, die sich auf etwas richten, Stimmungen dagegen entstehen und vergehen, richten sich auch nicht auf etwas bestimmtes Seiendes, sondern allgemein auf die Welt. Wir sind auf einmal von Angst oder Langweile überwältigt, ohne genau angeben zu können, wie oder woher sie entstanden ist.
Angst und Furcht haben dann allerdings doch einen Einfluss auf unsere Psyche, doch Heidegger meint nicht die Gefühle, die wir haben, wenn wir z.B. emotional geladen sind, sondern er meint dann wohl eine allgemeine Stimmungslage, die ich z.B. habe, wenn ich morgens aufstehe. Hierzu Heidegger:
Zitat von Heidegger
Das Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, dass das Dasein je schon immer gestimmt ist.
In diesem erschlossenen Seinscharakter des "Da" oder "Daß es ist und zu sein hat", dahinein werden wir geworfen ("Geworfenheit", Seite 135), weil es das "In der Welt-sein" ist, eben das "Da". Ein Charakter des Daseins ist auch die Befindlichkeit, die Stimmung.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 27.11.2011 22:53von Roquairol • 1.072 Beiträge
§ 28 ist ein seltsames Kapitel. An anderer Stelle schrieb Heidegger mal, daß man Vorreden zu einem Buch erst nach der Lektüre des Buches lesen sollte, Nachwörter dagegen vorher. Nun ist § 28 gewissermaßen die Vorrede zum 5. Kapitel: Man kann diesen Paragraphen eigentlich nicht verstehen, ohne das ganze 5. Kapitel zu kennen - ja, ohne "Sein und Zeit" als Ganzes zu kennen. So setzt das, was auf S. 133 oben zur Erschlossenheit steht, unbedingt die Kenntnis von § 44 voraus ... Dies ist mal wieder ein typischer hermeneutischer Zirkel: Es wird vorausgesetzt, daß man SuZ mehrmals liest, wobei sich der volle Sinn dieses Paragraphens erst bei der wiederholten Lektüre erschließt.
§ 28 erläutert vorab, worum es im 5. Kapitel gehen soll. Es geht um das "In-Sein", das schon zuvor in § 12 und § 13 angesprochen wurde, und zwar soll diese weitere Untersuchung des In-Seins "den Weg bahnen zur Erfassung des ursprünglichen Seins des Daseins selbst, der Sorge". Die Sorge wird dann Thema des 6. Kapitels sein.
Das "In-Sein" zeigt sich als "Da-Sein". Das Da ist die grundlegende existenziale Erschlossenheit des Raumes. Ohne das Da ist das Dasein nicht vorstellbar, denn es ist nicht einfach irgendwo, sondern immer "da". Dies ist also das Thema das 5. Kapitels, das sich in zwei Teile untergliedert: Zunächst geht es um "die existenziale Konstitution des Da" - dahinter verbirgt sich erstaunliches, nämlich "Befindlichkeit", "Furcht", "Verstehen", "Auslegung", "Aussage", "Rede" und "Sprache". Danach soll "das alltägliche Sein des Da" untersucht werden, und dies zeigt sich ebenso überraschend als "Gerede", "Neugier", "Zweideutigkeit" und "Verfallen".
zu § 29:
"Befindlichkeit" ist für Heidegger die ontologische Bezeichnung für Stimmung bzw. Gestimmtsein. Sie ist ein fundamentales Existenzial.
Das Dasein ist je schon immer gestimmt.
Auch die vermeintliche Ungestimmtheit ist nicht nichts, sondern eine Art der Stimmung.
"Die Stimmung macht offenbar, 'wie einem ist und wird'." Dadurch bringt das Gestimmtsein das Sein in sein 'Da'.
Aber die Stimmung offenbart nicht nur, wie das Dasein ist, sondern auch, "daß es ist und zu sein hat". Gerade in der gleichgültigsten Alltäglichkeit kann das Sein als nacktes "daß es ist" durchbrechen. - Dieses "Daß es ist" nennt Heidegger die Geworfenheit des Seienden in sein Da.
Ein anderes Wort für "daß es ist" ist "Faktizität". Es geht hier um die "Faktizität der Überantwortung" (weil dem Dasein das Sein überantwortet wurde als das Sein, das es existierend zu sein hat). - Diese Faktizität ist allerdings nicht dieselbe wie bei einem vorhandenen Ding, denn dessen Faktizität wird dadurch erkannt, daß man das Ding sieht. Die Faktizität, um die es hier geht, kann jedoch nie gesehen werden, weil sie in der Existenz des Daseins liegt.
"Faktizität" meint, das etwas ein Factum, eine Tatsache ist. Es ist eine Tatsache, daß neben mir auf dem Tisch eine Tasse steht. Woher weiß ich von dieser Faktizität der Tasse? Ganz einfach weil ich sie sehe. (Das ist natürlich wieder phänomenologisch.) Das Dasein (also je mein eigenes Dasein, wie wir wissen) kann ich aber nie auf diese Weise sehen, ich kann es nur existierend erfahren. Und das ist der Unterschied zwischen der Faktizität des Daseins und der Faktizität eines vorhandenen Dinges. "Das Daß der Faktizität [des Daseins] wird in einem Anschauen nie vorfindlich."
Zum Begriff des "Da": Ich sage auch "ich bin ganz da", einfach wenn ich wach bin (im Unterschied zu Situationen, wo ich "nicht ganz da bin", im Halbschlaf o.ä.). Wenn ich aus dem Schlaf aufwache, bin ich plötzlich "da". Es ist eine Erschlossenheit des Raumes, denn im Schlaf bin ich in einer Traumwelt, und zum Aufwachen gehört gerade, daß ich mir des Raumes bewußt werde, in dem ich mich befinde.
Aber wie stellt sich nun dieses Sein, das "da" ist, zunächst dar? Ist es ein Körper, oder ein Gedanke? Heidegger sagt, daß sich dieses Sein zunächst als Stimmung zeigt, vor allen bewußten Reflexionen o.ä.: "Die Stimmung macht offenbar, 'wie einem ist und wird'. In diesem 'wie einem ist' bringt das Gestimmtsein das Sein in sein 'Da'."
Es geht weiter mit der Geworfenheit und Befindlichkeit (immer noch S. 135):
In der Befindlichkeit hat sich das Dasein immer schon gefunden. (Bleiben wir beim Beispiel des Aufwachens: Das Dasein findet sich, und findet sich zugleich schon in einer bestimmten Stimmung.) Das heißt aber nicht, daß es sich gesucht hätte, im Gegenteil: Das Finden entspringt einem Fliehen, d.h. einer "An- und Abkehr". Gerade in gehobener Stimmung kehrt sich das Dasein ab von der Geworfenheit, und durch solche An- und Abkehr wird die Geworfenheit erschlossen.
Die Faktizität des Daseins "starrt uns in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegen". Es gibt keine rationale Erklärung dafür, aber auch keine irrationale (womit Heidegger wohl religiöse Ansätze meint): "Der Irrationalismus - als das Gegenspiel des Rationalismus - redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist."
Nun konstatiert Heidegger, daß ein Dasein willentlich der Stimmung Herr werden kann. Aber "Herr werden wir der Stimmung nie stimmungslos, sondern je aus einer Gegenstimmung." Die Stimmung bleibt also in jedem Fall die ursprüngliche Seinsart des Daseins. Heidegger formuliert den ersten ontologischen Wesenscharakter der Befindlichkeit: "Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr".
Die Stimmung "überfällt uns". Heidegger meint allerdings nicht, daß wir die Stimmungen nicht werten sollen (dies ist nicht sein Thema), sondern er meint nur, daß wir das Reflektieren über Stimmungen nicht mit den Stimmungen selbst verwechseln dürfen. Die Stimmung ist da, bevor wir darüber reflektieren und uns ihrer bewußt werden, und sie ist völlig unabhängig davon. In der Stimmung ist das In-der-Welt-sein immer schon erschlossen, ob wir uns dies bewußt machen, oder nicht. Dies führt zu Heideggers zweitem Wesenscharakter der Befindlichkeit:
"Sie ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz"
Also Welt, Mitdasein und Existenz gehören zusammen, sie sind nicht getrennt voneinander zu denken. Ihre Erschlossenheit hat einen gemeinsamen Ursprung. Eine (wenn auch nicht die einzige) Art dieser Erschlossenheit ist die Befindlichkeit. Dies besagt der Satz, daß in der Stimmung das In-der-Welt-sein immer schon erschlossen ist.
Die vordem schon erschlossene Welt läßt Innerweltliches begegnen, wurde schon in § 18 gesagt. Jetzt erfahren wir, daß die Befindlichkeit dabei eine wesentliche Rolle spielt. Denn was uns in der Umsicht begegnet, läßt uns nicht gleichgültig - es betrifft uns. Diese Betroffenheit zeigt sich dann z.B. als Bedrohlichkeit. Die Bedrohlichkeit eines Zuhandenen können wir aber nur erfahren durch die Befindlichkeit des Fürchtens bzw. der Furchtlosigkeit. Dadurch konstituiert die Befindlichkeit existenzial die Weltoffenheit des Daseins.
Ein Begegnenlassen von Seiendem ohne Gestimmtheit wäre nur ein stumpfsinniges Anglotzen.
Die Gestimmtheit ist die Voraussetzung dafür, daß ich von Seiendem betroffen werden kann, z.B. indem ich es als bedrohlich empfinde. Dies ist nur möglich, wenn ich die Gestimmtheit der Furcht bzw. Furchtlosigkeit (dies muß hier zusammengedacht werden) mitbringe. Die Bedrohlichkeit auf der einen Seite und die Furcht/Furchtlosigkeit auf der anderen Seite greifen wie Schlüssel und Schloß ineinander. Auf diese Weise "erschließt" das Dasein die Welt.
Furchtlosigkeit ist nicht einfach nur das Fehlen der Stimmung Furcht, sondern es ist eine eigene Stimmung, die sinnvollerweise auch nur angesichts eines potentiell Bedrohlichen auftreten kann. Es ist absurd, zu sagen, ich wäre furchtlos gegenüber einer Schneeflocke. Aber ich kann furchtlos gegenüber einem Hund sein, gerade weil ich (z.B. in meiner Kindheit) die Bedrohlichkeit von Hunden erfahren habe.
Dies heißt auch, daß nicht alles Begegnende den Charakter 'bedrohlich' annehmen kann. Die Stimmung färbt nicht das Begegnende - dazu müßte ich ja schon die Furcht haben, bevor mir überhaupt irgendetwas begegnet (so etwas gibt es, aber das ist dann psychopathologisch). Das würde auch die Betroffenheit völlig ausschließen: Ich werde zunächst betroffen von dem Seienden, das mir begegnet, und dieses Betroffen-werden zeigt sich dann z.B. als Bedrohlichkeit.
Auf S. 138 geht es um die "Einförmigkeit des puren Vorhandenen".
Zunächst geht es Heidegger um Täuschung und Täuschbarkeit - es liegt an der Befindlichkeit, daß die Umsicht sich "versieht" und der Täuschung unterliegt. Aus diesem Grund ist die Täuschung ontologisch mehr als ein bloßes "Nicht-Sein". Das Zuhandene zeigt sich "in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist." Der wissenschaftlich-theoretische Blick will davon absehen und nur "die Einförmigkeit des puren Vorhandenen" beachten - aber auch er ist nicht frei von Stimmungen und erblickt die reine Vorhandenheit nur in einer Stimmung der "Gelassenheit vor den Dingen" (wie Heidegger dies in seiner Spätphilosophie nennen wird). - Dies soll allerdings nicht verwechselt werden mit einem Versuch, "Wissenschaft ontisch dem 'Gefühl' auszuliefern."
Es folgen einige philosophiegeschichtliche Ausführungen, die wir hier schnell abhandeln können: Die Thematik der Stimmungen wurde erstmals von Aristoteles behandelt, interessanterweise in seinem Buch über Rhetorik. Dann wurde dem Thema immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt, bis es durch die Phänomenologie und Scheler wieder gewürdigt wurde.
Interessant in diesem Zusammenhang noch die Feststellung, daß auch das Man in Form der Öffentlichkeit Stimmungen hat und erzeugt.
Schließlich eine Art Zusammenfassung: Die Befindlichkeit ist die existenziale Seinsart, in der sich das Dasein ständig an die "Welt" ausliefert, sich von ihr angehen läßt derart, daß es ihm selbst in gewisser Weise ausweicht.
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 28.11.2011 01:31von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Roquairol,
Zitat von Roquairol
In der Befindlichkeit hat sich das Dasein immer schon gefunden. (Bleiben wir beim Beispiel des Aufwachens: Das Dasein findet sich, und findet sich zugleich schon in einer bestimmten Stimmung.)
So ähnlich habe ich as auch gesagt. Die Gestimmtheit ist einfach so eine Stimmung, die man z.B. beim Aufwachen hat.
Zitat von Roquairol
Aber die Stimmung offenbart nicht nur, wie das Dasein ist, sondern auch, "daß es ist und zu sein hat". Gerade in der gleichgültigsten Alltäglichkeit kann das Sein als nacktes "daß es ist" durchbrechen. - Dieses "Daß es ist" nennt Heidegger die Geworfenheit des Seienden in sein Da
Wenn ich jetzt mal das übliche Heideggervokabular weglassse, welches mir viel zu angestrengt und umständlich ist (es ginge auch einfacher, weil es eigentlich gar nicht so schwer ist), ist Geworfenheit einfach nur das, dass ein Mensch nach er Geburt oder nach der Narkose in Welt geworfen wird, weil es anders gar nicht geht. Es ist halt so. Der Mensch hat Bewusstsein, wie es Menschen nun einfach haben, weil das Bewusstsein "ist und zu sein hat", weil unser Gehirn einfach so funktioniert wie es funktioniert. Wenn es sich so verhält, ist der Mensch eben einfach da und erlebt die Welt in ihrer Bezugsganzheit, ihrer Räumlichkeit, er erlebt seine Grundstimmung, wie er sich gerade nach dem Zähneputzen fühlt usw.
Also nichts besonderes. Mehr ist das doch nicht, oder?
Aus dieser ersten Wesensbestimmung der Befindlichkeitm die die Geworfenheit ist, ergibt sich auch die zweite Wesensbestimmung,nämlich die Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, denn wir haben ja schon gesehen, Dasein ist immer ein Mitsein der Anderen in der Welt. Daraus ergibt sich die Existenz.
Die ritte Wesensbestimmung der Befindlichkeit ist die Betroffenheit, Sie ergibt sich daraus, weil wir umsichtig besorgt sind. Hier das Beispiel von Taxine:
Zitat von Taxine
Auch wenn es sich z. B. um Haus und Hof fürchtet, geht es um das Dasein, denn diesem geht es (wie wir gesehen haben) in seinem Besorgen immer um sich selbst, Haus und Hof sichern dem Dasein sein Sein, daher besteht Furcht, es zu verlieren.
Bei Heidegger heißt das so:
Zitat von Heidegger, Seite 137
Das umsichtig besorgende Begegnenlassen hat - so können wir jetzt von der Befindlichkeit her schärfer sehen - den Charakter des Betroffenwerdens.
Warum hat Furcht nichts mit Emotion zu tun? Deshalb, weil Furcht ein Zustand ist, Emotion aber ein aufflackern?
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 30.11.2011 08:54von Martinus • 3.195 Beiträge
§ 30
Zitat von Taxine
Durch Furcht wird das Furchtbare sichtbar. Das Worum die Furcht fürchtet, ist das Dasein selbst.
Die Furcht ist ein Modus der Befindlichkeit, und darum hängt die Furcht sehr mit em Dasein zusammen.
Zitat von Heidegger, Seite 141
Die Furcht enthüllt immer, wenn auch in wechselnder Ausdrücklichkeit, das Dasein im Sein seines Da.
Meint Heidegger mit "Abträglichkeit", dass die Furcht jemanden schadet?
Zitat von Heidegger
das Begegnende hat die Bewandtnisart der Abträglichkeit
Was bedeutet das ?
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 30.11.2011 14:38von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
die Abträglichkeit kannst du als Bestimmung der Furcht betrachten. Dasein ist Sorge, ist Stimmung, ist Furcht. Wenn Dasein sich fürchtet, fürchtet es sich vor etwas. Heidegger untersucht also hier, wie sich das Wovor bestimmen ließe. Darum ist Abträglichkeit etwas, das uns als schädlich erscheint. Die Abträglichkeit ist das Begegnende, das auf uns als Bedrohung wirkt. Sie tritt in einer bestimmten Gegend auf, ohne sich direkt zu zeigen, ist also nicht weit genug weg, als dass wir keine Furcht haben, sondern nähert sich. Wir spüren nur, dass da etwas ist, dass uns Angst macht. Etwas rückt in unsere Nähe, es naht, darum bedroht es uns. Dieses Herannahen hat also den Charakter des Drohens. Solange es uns nicht erreicht, schadet es uns nicht, aber wir empfinden es als schädlich, als Furcht. Das Abträgliche kann dabei dann auch ausbleiben, was in diesem Sinne keine Rolle für unsere Furcht spielt. Das, was wir als Bedrohung empfinden, kann an uns vorübergehen oder uns gar nicht erst erreichen, trotzdem fürchten wir uns, unsere Furcht wird sogar noch verstärkt, eben weil wir nicht wissen, was dort lauert, vor dem wir uns fürchten.
Zitat von Martinus
Warum hat Furcht nichts mit Emotion zu tun?
Weil Furcht Stimmung ist, damit ein Grundzustand des Daseins. Furcht ist die Möglichkeit der Befindlichkeit. Das, wovor und worum wir fürchten, ist nur möglich, weil Dasein als in die Welt geworfen furchtsam ist.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 30.11.2011 22:46von Roquairol • 1.072 Beiträge
In § 30 wird die Furcht als Beispiel für eine Befindlichkeit genauer analysiert. Die Analyse gliedert das Phänomen der Furcht in drei "Hinsichten":
- das Wovor der Furcht
- das Fürchten
- das Worum der Furcht
Diese Struktur gilt nicht nur für die Furcht, sondern für alle Befindlichkeiten.
"Das Wovor der Furcht, das 'Furchtbare', ist jeweils ein innerweltliches Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, des Vorhandenen oder des Mitdaseins." - Dieser Satz paßt ja ausgezeichnet zu dem, was wir oben besprochen hatten.
(Eine Frage am Rande: Wozu zählen eigentlich Katzen? Wahrscheinlich zum Mitdasein ...)
Das Wovor der Furcht hat den Charakter der Bedrohlichkeit. Heidegger führt nun weitere Merkmale an:
1. Es hat die "Bewandtnisart der Abträglichkeit", also es ist mir abträglich, nachteilig, will mir meine Seinsmöglichkeiten in irgendeiner Weise ab-tragen.
2. Die Abträglichkeit kommt aus einer bestimmten Gegend (also der bedrohliche Hund ist nicht irgendwo, sondern an einem konkreten Ort).
3. Die Gegend, die "nicht geheuer" ist, ist mir bekannt (ich sehe genau die Straßenecke, wo der Hund lauert).
4. Das Abträgliche naht, ist aber noch nicht in beherrschbarer Nähe (es ist ja ein bekanntes Phänomen, daß in den akut-brenzlichsten Situationen gerade keine Furcht auftritt).
5. Das Herannahen als solches ist schon in der Nähe (ein Rudel Wölfe am Horizont ist zwar nicht schön, aber man hat noch Zeit zum Weglaufen)
6. "das Abträgliche als Nahendes in der Nähe trägt die enthüllte Möglichkeit des Ausbleibens und Vorbeigehens bei sich, was das Fürchten nicht mindert und auslöscht, sondern ausbildet." (Also die Furcht entsteht nicht durch die Gewißtheit, daß der Hund mich beißen wird, sondern gerade durch die offene Möglichkeit, daß der Hund mich angreifen wird oder auch nicht.)
Kommen wir zum Fürchten selbst.
"Das Fürchten selbst ist das sich-angehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen." Es ist also die existenzielle Befindlichkeit angesichts eines Bedrohlichen, das uns direkt angeht (also nicht ein abstraktes "zukünftiges Übel"). - Auch wird nicht erst (neutral) das Furchtbare konstatiert und dann gefürchtet, sondern das Fürchten "entdeckt es zuvor (also von Anfang an) in seiner Furchtbarkeit". Erst dann wird ausdrücklich hingesehen und das Furchtbare "klar gemacht".
"Die Umsicht sieht das Furchtbare, weil sie in der Befindlichkeit der Furcht ist." - Das soll nicht heißen, das Furchtbare wäre nur deshalb furchtbar, weil die Umsicht sich wie in einer krankhaften Neurose in der Befindlichkeit der Furcht befände. Sondern die Umsicht kennt das Fürchten als eine "schlummernde Möglichkeit" des In-der-Welt-seins, die jederzeit "freigegeben" werden kann (auch wenn tatsächlich gar nichts Furchtbares da ist). Zum Beispiel kann ich hier arglos am Laptop sitzen, ganz in meinen Beitrag vertieft, und plötzlich werde ich von einem schwarzen Vorhandenen angesprungen. Das Fürchten ist die spontane Reaktion darauf - allerdings nur kurz, bis ich erkenne, daß es sich um Herrn Nilsson handelt, der weiß Gott nicht furchtbar ist. Aber auch in Situationen, wo es sich tatsächlich um etwas Furchtbares handelt, sieht die Umsicht es erst, weil sie sich dann schon in der Befindlichkeit der Furcht befindet.
Kommen wir zu dem Worum der Furcht. Die Furcht fürchtet um das Dasein selbst. "Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann sich fürchten." Deshalb enthüllt die Furcht das Dasein im Sein seines Da.
Dies wird auch nicht widerlegt, wenn wir nicht um unser Leben, sondern nur um "Haus und Hof" fürchten. Denn das Dasein als In-der-Welt-sein ist besorgendes Sein, das sein Dasein aus dem bezieht, was es besorgt. "Dessen Gefährdung ist Bedrohung des Seins bei."
Die Furcht verwirrt und macht kopflos.
Dann gibt es noch das Fürchten für andere. Es ist eine "Weise der Mitbefindlichkeit mit den Anderen".
Schließlich unterscheidet Heidegger noch:
Erschrecken: ein Bedrohliches taucht plötzlich auf
Grauen: das Bedrohliche hat den Charakter des ganz und gar Unvertrauten
Entsetzen: Grauen und Erschrecken zusammen
Hinter diesen und einigen weiteren Varianten der Furcht steht die Furchtsamkeit als mögliche Befindlichkeit des Daseins. Sie ist eine (aber nicht die einzige) "existenziale Möglichkeit der wesenhaften Befindlichkeit des Daseins überhaupt".
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 03.12.2011 14:09von Martinus • 3.195 Beiträge
§31
Die Befindlichkeit ist Existenzial für das „Da“. Genauso verhält es sich mit dem „Verstehen“, welches immer eine Gestimmtheit hat. Mit dem Verstehen ist nicht verstehen gemeint, in dem Sine, mir erklärt jemand etwas und ich verstehe das. Der begriff „Verstehen“ wurde schon im Kap. 18 verwendet, als es darum ging, das „In- der -Welt – sein“ als solches erschlossen ist, diese Erschlossenheit „Verstehen“ genannt wurde. Der Sinn des Begriffes „Verstehen“ als Existenzial bezieht sich auf das Sein des Exitierens, womit das „Da“ gemeint ist.
Zitat von Heiegger
Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Dasein als Sein-können
(Seite 143)
Es geht nun darum, das Dasein nicht mehr etwas Vorhandenes ist, sondern es geht um die Möglichkeit, wie ein Dasein sein kann. Diese wesenhafte Möglichkeit, so Heidegger, besitze die charakterisierten Weisen des Besorgens der „Welt“, der Fürsorge usw. Die Möglichkeit als Existenzial ist
Zitat von Heidegger
„die ursprünlichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins.“
(Seite 144)
Was ist damit gemeint? Andreas Luckner schreibt in seinem Kommentar, es ist die "existenziale Möglichkeit“. Doch ist damit noch nicht beantwortet, was wir uns darunter vorzustellen haben.
Heidegger erklärt zwar,
Zitat von Heidegger
Die Möglichkeit als Existenzial bedeutet nicht das freischwebende Seinkönnen im Sinne der „Gleichgültigkeit der Willkür
sondern, so wird gesagt:
Zitat von Heidegger
„Das Dasein ist als wesenhaft befindliches je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, als Seinkönnen, das es ist...
usw
Das was nicht ganz so leicht ist bei Heidegger, macht sich hier bemerkbar. Wir drehen uns nämlich im Kreis, eben darum, weil ja schon gesagt worden ist, das die Mögklichkeit wesenhaft, oder existenzial ist, mit dem Dasein also eng verbunden, ich aber doch ein konkretes Beispiel erwartet habe, was mir die Bedeutung von existenzialer Möglichkeit erklärt. (Vielleicht macht das Heidegger später noch. Mal sehen. Mir kommt es jetzt einfach nur so vor, dass alles ein „Da“ ist, eine Art Grundzustand für Befindlichkeiten, Besorgen, Fürsorge, Verstehen, Möglichkeit – all dieses ist eben mit dem „Da“ verwoben. Es ist eben so, wie es ist. Im Grunde genommen erzählt Heidegger uns nur, was alles eine Folge von dem „Da“ ist. Habe ich in dieser Sichtweise recht, oder tappe ich daneben? Und dann kommt ja der wichtige Satz, der in kursiv auf Seite 144 zu lesen ist:
Zitat von Heidegger
Verstehen ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst, so zwar, daß dieses Sein an ihm selbt das Woran des mit ihm selbst erschließt.
Wenn ich sage Möglichkeit „ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst...“ wäre das doch auch richtig, weil Möglichkeit mit dem Dasein genauso verknüpft ist wie das Verstehen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 03.12.2011 16:30von Roquairol • 1.072 Beiträge
Also nun zu § 31:
Oben hatten wir die Befindlichkeit als eine existenziale Struktur des Daseins betrachtet. Eine weitere, gleichursprüngliche existenziale Struktur ist das Verstehen.
Wir müssen beachten, daß Heidegger mit diesem existenzialen Verstehen nicht eine bestimmte Erkenntnisart meint, sondern eine Form des Seins. Schon auf S. 85ff. ging es Heidegger um dieses Seinsverständnis, das nun vertieft werden soll.
Eng mit dem Verstehen verbunden ist der Begriff der Möglichkeit. "Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist."
Auch hier ist der Begriff "Möglichkeit" zu unterscheiden von dem selben Begriff, wie er z.B. in der Logik verwendet wird. Für Heidegger ist die Möglichkeit ein Existenzial. "Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen."
Das Dasein ist also nicht zunächst ein festgelegtes Etwas, dem dann im nächsten Schritt diese oder jene Möglichkeit zugeschrieben werden könnte. Sondern das Wesen des Daseins ist es, Möglichkeit (und nichts als Möglichkeit) zu sein. Deshalb ist die Möglichkeit "die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins".
Nun kommt das Verstehen ins Spiel: "Das Dasein ist in der Weise, daß es je verstanden, bzw. nicht verstanden hat, so oder so zu sein."
Das Verstehen, das Heidegger meint, ist also nicht ein Verstehen von irgendeinem äußeren Sachverhalt, sondern das Verstehen des eigenen Seins.
Verstehen ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst, und zwar so, daß dieses Sein an ihm selbst das Woran des mit ihm selbst Seins erschließt.
Anders ausgedrückt: Verstehen ist ein Sein, das sich selbst mit seinen Möglichkeiten und seinem ganzen In-der-Welt-sein wie in einem Spiegel betrachtet.
Was bedeutet das in der Praxis? Wir hatten ja oben schon das Beispiel, daß du morgens aufwachst und dich jeweils schon in einer Stimmung befindest. Diese Stimmung ist aber nicht das einzige: Außerdem "verstehst" du dich selbst, du bist dir deiner selbst bewußt, du machst dir Gedanken.
Diese Gedanken, sofern sie sich auf dein Dasein beziehen, tauchen immer in Form von Möglichkeiten auf: Du kannst sofort aufstehen oder noch etwas liegen bleiben ... Du kannst später im Laufe des Tages dieses oder jenes tun.
Das Dasein ist Möglichsein, gerade weil wir keine Maschinen sind, die morgens um Sieben gedankenlos-roboterhaft aufstehen. Selbst wenn wir "müssen", geht dem Aufstehen ein entsprechender Beschluß voran: "So, jetzt stehe ich auf, in einer Sekunde." Das heißt, wir werfen uns selbst ein Stück voraus in die Zukunft (auch wenn es nur eine Sekunde ist), wir ent-werfen uns. Deshalb nennt Heidegger die existenziale Struktur des Verstehens den "Entwurf". Dies betrifft kleinste Alltagsentscheidungen genauso wie den großen Lebensentwurf.
(Noch eine Bemerkung am Rande: Wenn Heidegger die "Sicht" mit der philosophischen Tradition in Verbindung bringt, dann bezieht er sich auf den Begriff "Theorie". Dieser Begriff ist abgeleitet vom griechischen "theoreo" = "sehen, schauen".)
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.12.2011 14:56von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
§ 32 - Vom "Schauen" und "Verstehen" geht es über zur "Auslegung".
Umsicht heißt auch, dass die je schon verstandene Welt (in ihrer Bedeutsamkeit) ausgelegt wird.
Wir hatten bereits beim Zeug und Zuhandenen gesehen, dass alles ist, um zu… Es ist also vorhanden und zuhanden, als…
Dieses Als macht die Struktur der Ausdrücklichkeit eines Verstandenen aus. Daraus ergibt sich die Auslegung. In diesem Als lässt sich die pure Wahrnehmung erkennen, die uns gegeben ist.
Auch in der Auslegung zeigt sich, dass Descartes nicht richtig lag, dass Bedeutung nicht auf das nackte Vorhandene geklebt oder dieses mit einem Wert behaftet wird, sondern immer schon im Weltverstehen als erschlossene Bewandtnis vorhanden ist und ausgelegt werden kann. Auslegung ist (150) „Verständniszueignung im verstehenden Sein zu einer schon verstandenen Bewandtnisganzheit“. Dies nennen wir „Vorhabe“, eben jene Bewandtnisganzheit. Das in Vorhabe Genommene (also die Sicht) auf eine bestimmte Auslegung hin gründet in „Vorsicht“. Da Auslegung sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine bestimmte Begrifflichkeit entschieden hat, sprechen wir vom „Vorgriff“.
Zusammengefasst heißt das: „Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert.“
Wenn innerweltlich Seiendes mit dem Sein das Dasein entdeckt, also es verstanden hat, sprechen wir von „Sinn“. Sinn ergibt sich nur, wenn Dasein in die Welt blickt und Sinn erkennt, nicht in den Dingen, die Dasein aus der Welt begegnen. Dasein legt ihnen Sinn bei.
Damit Dasein sich entwerfen kann, muss es Sinn darin entdecken. Sinn ist auch das, worin das enthalten ist, was verstanden wird, ohne dass es ausdrücklich in den Blick gerät. Das ist durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff gegeben.
Nur Dasein kann sinnvoll oder sinnlos sein. Unsinnig ist alles, was nicht Dasein ist. Hier ist keine Wertung gemeint, sondern unsinnig wird als widersinnig verstanden. Unsinnig ist alles, was für das Dasein widersinnig ist und ihm schadet, z. B. Naturkatastrophen.
Sinn ist also ebenfalls ein Existenzial, ist, damit Dasein ist. Hier wird schon sichtbar, dass die Frage nach dem Sinn des Seins nicht gestellt wird, um hinter dem Sein etwas zu entdecken, sondern der Sinn selbst zum Sein gehört. Der Sinn vom Dasein ist z. B. zu sein.
Wir hatten also: Das Verstehen betrifft als die Erschlossenheit des Da immer das Ganze des In-der-Welt-seins.
In jedem Verstehen von Welt ist Existenz mitverstanden und umgekehrt.
Neu hinzu fügen wir nun: Alle Auslegung bewegt sich in einer gekennzeichneten Vor-Struktur und gründet im Verstehen. Die Gliederung der Auslegung ist Sinn. Weil Auslegung immer bereits vorverstanden ist, damit es ausgelegt werden kann, kommt hier doch der hermeneutische Zirkel zur Geltung.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration