HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Hallo Taxine
Zitat von Taxine
Hallo... wir lehnen uns gemütlich zurück und diskutieren weiter.Zitat von Martinus
Das "Wer" bezieht sich auf das Selbst des Individiums, welches in der Welt agiert, insofern hält es seine Identität durch.
Die Frage "Wer" bezieht sich auf ein Selbst, dass aber zunächst Dasein im Man ist, also kein tatsächliches "Ich" und gerade nicht "es selbst". Es hält auch nicht seine Identität durch, sondern bleibt trotz der Wechselhaftigkeit der Erlebnisse identisch. Die Frage "Wer?" bleibt gleich, worauf sie sich auch immer richtet. Das Wer ist das Dasein im Man, das nicht es selbst und damit uneigentlich ist, sich erst finden muss.
In dieser Sache lasse ich nicht locker:
Heidegger sagt:
Zitat von Heidegger
Das Wer beantwortet sich aus dem Ich selbst, dem "Subjekt", dem ""Selbst"
1)Was bedeutet es, wenn Heidegger sagt, das Selbst ist das Subjekt?
2) Was meinst du, wenn du über das Selbst sagst, dass es "aber zunächst Dasein im Man ist." Der Begriff "Man" ist, soweit ich das überblicke, von Heidegger noch nicht definiert worden, oder? Das "Wer" ist ja auch das Dasein im Man, sagst du. Was bedeutet das? Das hängt alles irgendwie zusammen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Hallo Taxine,
auf geht's zum § 26
Zitat von Taxine
Dasein ist Mitsein mit anderen, die wiederum Mitsein in der Welt sind. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Mitsein meint nicht, dass ich mit anderen in einer Welt bin, sondern dass die Begegnung immer stattfindet, auch wenn ich alleine bin oder die anderen sichtbar nicht vorhanden. (S. 120) Das Mitsein und die Faktizität des Miteinanderseins gründet daher nicht in einem Zusammenvorkommen von mehreren „Subjekten“.
Konkret: Auf welche Weise findet denn eine Begegnung statt, wenn die anderen nicht da sind? Inwiefern bin ich dann doch im Mitsein oder Mitwelt. Ich begreife schon, dass man sich weiterhin alleine fühlen kann, auch wenn andere Menschen in der Nähe sind, aber begegnen kann ich doch nur jemanden, der auch anwesend ist. Wir haben zwar schon darüber gesprochen, dass wir in unserem Dasein nicht von anderen Wesen abgespalten sind, darum Heidegger wohl auch sagen kann
Zitat von Heidegger, Seite121
Das eigene Dasein ist nur, sofern es die Wesensstruktur des Mitseins hat, als für Andere begegnend Mitdasein.
aber trotzdem bin ich alleine im Zimmer, wenn sonst niemand da ist, auch wenn Heidegger sagt, ein Dasein ohne Mitsein gebe es nicht.
Was nun? Ich drehe mich im Kreis.
Herzlich gegrüßt
aus der Unwissenheit
mArtinus
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 17.11.2011 20:44von Roquairol • 1.072 Beiträge
Zitat von Martinus
Konkret: Auf welche Weise findet denn eine Begegnung statt, wenn die anderen nicht da sind? Inwiefern bin ich dann doch im Mitsein oder Mitwelt. Ich begreife schon, dass man sich weiterhin alleine fühlen kann, auch wenn andere Menschen in der Nähe sind, aber begegnen kann ich doch nur jemanden, der auch anwesend ist.
Hallo Martinus,
versuchen wir es mal so herum: Stellen wir uns einen Menschen ohne Mitwelt vor, also einen eigentlich unvorstellbaren surrealen Robinson, der in einer Welt ohne andere Menschen lebt und nur Pflanzen und Tiere kennt. Was hätte dieser Mensch für eine Vorstellungen von seinem Selbst? Vermutlich gar keine, weil er sie nicht braucht. Man denkt erst "ich", wenn man auch "ich" sagt - und man sagt nur "ich", wenn es auch ein "du" gibt.
Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
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Zitat von Roquairol
Man denkt erst "ich", wenn man auch "ich" sagt - und man sagt nur "ich", wenn es auch ein "du" gibt.
Ja. Da ist was dran. Auch ein Säugling erkennt in der Mutter erst ein "du", wenn es seine eigene Individualität erkannt hat. Heidegger gibt noch eine andere Erklärung. Die "Anderen" müssen keine Menschen sein, sondern es sind auch "wesenhafte Verweisungen auf mögliche Träger", d.h. wir begegnen die Werkwelt eines Handwerkes (=die Anderen) oder ein verankertes Boot am Strand verweist auf einen Bekannten hin, der damit Fahrten unternommen hat. Diese Verweisungen beziehen sich auf andere. Oder,ich habe ein altes Buch in der Hand, und mir fällt der Antiquar ein, wo ich es gekauft habe. Diese Verweisungen beziehen sich auf andere. In unserem Dasein, dem innerweltlich Seienden, nehmen wir diese Verweisungen wahr. So schließt sich wieder der Kreis und kommen zu einem wichtige Aussage auf Seite 118:
Zitat von Heidegger
Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein (vertraut sein) ist Mitsein mit Anderen. das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitsein.
Aus dieser Erkenntnis leitet sich (oder umgekehrt) die Erkenntnis ab
Zitat von Heidegger, Seite 118
"Welt" ist auch Dasein.
Jetzt komme ich nur noch zu der Frage nach dem Selbst, dem Ich, Subjekt. Gemeint ist das Selbst nicht im psychologischem Sinne von Selbstbewusstsein, sondern die Daseinserfahrung setzt ein Selbst als Subjekt voraus, damit die Welt als Dasein erfahren werden kann. Ich denke, so ist das gemeint.
Liebe Grüße
mArtinus
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 19.11.2011 15:19von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Dass das Dasein natürlich ein Selbst ist, ist vorausgesetzt. Heidegger weist aber eben nach, dass dieses Selbst nicht es selbst ist, solange es uneigentliches Dasein ist. Auch lässt sich aus Heideggers Ausführungen schließen, dass es kein "Subjekt" im herkömmlichen Sinne gibt, da kein isoliertes Ich möglich ist.
Zitat von Martinus
Heidegger gibt noch eine andere Erklärung. Die "Anderen" müssen keine Menschen sein, sondern es sind auch "wesenhafte Verweisungen auf mögliche Träger", d.h. wir begegnen die Werkwelt eines Handwerkes (=die Anderen) oder ein verankertes Boot am Strand verweist auf einen Bekannten hin, der damit Fahrten unternommen hat. Diese Verweisungen beziehen sich auf andere. Oder,ich habe ein altes Buch in der Hand, und mir fällt der Antiquar ein, wo ich es gekauft habe. Diese Verweisungen beziehen sich auf andere. In unserem Dasein, dem innerweltlich Seienden, nehmen wir diese Verweisungen wahr.
Genau, Martinus. Das Mit-sein lässt sich in diesem Sinne ähnlich erfassen, wie die Bewandtnisganzheit oder der Zeugzusammenhang. Wo auch immer man für sich alleine ist, man ist trotzdem mit der Welt verbunden, reflektiert vielleicht über das, was man tun möchte ... in der Welt. Dasein ist seine Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten betreffen immer auch Schritte in der Welt, damit im Mit-sein.
Um ein anderes Dasein näher kennenzulernen, das als Mitsein immer schon erkannt ist, bedarf es der „Einfühlung“.
Heidegger bestreitet dabei, dass Dasein das eigene Seiende voraussetzt und andere nachahmt, sozusagen der "Andere eine Dublette des Selbst" ist. Er sagt zwar, dass ein Dasein sich jeweilig selbst verstanden haben muss, um anderes Dasein zu begreifen, aber nur, weil es sich durchsichtig gemacht und nicht verstellt hat, in voller Erschlossenheit in der Welt ist und dieses durch seine Verfassungsmomente hindurch.
Und er wiederholt: Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend.
Art & Vibration
Hallo,
Ist "Einfühlung" das, was Heidegger "die wesentlich eigentliche Sorge" (=Fürsorge) betrifft, also die Fürsorge, die die Existenz des Anderen nennt? (also nicht die beherrschende Fürsorge)? - Denn das Miteinandersein gründet sich ja darauf, was miteinander besorgt wird. Da Dasein immer Mitsein ist, besteht zwischen meinem Dasein und dem Dasein der Anderen ein Verhältnis. Heidegger sagt nun folgendes:
Zitat von Heidegger
Dieses Seinsverhältnis wird dann zur Projektion des eigenen Seins zu sich selbst >>in ein Anderes<< Der Andere ist eine Doublette des Selbst.
Heidegger bezweifelt aber dann diese Überlegung und sagt, wie Taxine schon zitiert hat:
Zitat von Heidegger
Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend.
??
Das Sein zu Anderen ist also wie wir schon wissen gleich einem Mitsein zu Anderen. Und dieses ist seiend. Wie ist das dann mit der Einfühlung? Kann ich jemanden gerade deswegen einfühlen, weil das Dasein von ich und du seiend ist? Ist Einfühlung im psychologischem Sinne gemeint? Wenn ja, dann ist es auch logisch, das Einfühlung keine Projektion des eigenen Seins ist, weil wir bei Einfühlung uns in jemanden anders einfühlen und nicht in uns selber.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 20.11.2011 20:18von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Da Fürsorge ein Allgemeinbegriff im Umgang mit anderem Dasein und für das Besorgen im Mitsein ist, auch für das gleichgültige Miteinander gilt, so ist das Einfühlen das bewusste Begegnenlassen und einander Kennenlernen und auch nur möglich, da Mitsein ist. Da Dasein Mitsein ist, als ein für Dasein natürlicher Umstand, so ist das Mitsein aller ein Grundzustand, gleichfalls in der Begegnung, so dass gar nicht erst von sich auf andere geschlossen werden muss. Im Grunde sagt Heidegger ja auch, dass Dasein sich erst einmal in dieser Form begreift, weil es ganz im Man aufgeht und "benommen" von der Welt ist. Ein echtes Verstehen seiner selbst ist noch gar nicht möglich, aber um dahin zu gelangen, muss erst Uneigentlichkeit vorherrschen, gleichfalls das in-der-Welt-sein, gleichfalls das innerweltlich Seiende und sich Begegnende, gleichfalls das Mit-sein.
Am Ende dieses Paragraphen sagt Heidegger ja noch einmal:
Zitat von Heidegger S. 125
"Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst. Wer ist es denn, der das Sein als alltägliches Miteinandersein übernommen hat?"
Ja, jetzt kommen wir der Sache noch näher. Jetzt heißt die Antwort explizit: das Man.
Nun wird sich auch einiges klären.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
§ 27 Das alltägliche Selbstsein und das Man
Heidegger beginnt erst einmal mit der "umweltlich besorgten Mitwelt" und der Bezug zu den Anderen. Das Besorgen hat den Charakter der "Abständigkeit", d.h. es ist immer "die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen" (Seite 12), um des Ausgleichens. Der Unterschied u den anderen ist der Abstand. Zum alltäglichen Mieinandersein gehört aber auch die "Botmäßigkeit" der anderen.
Zitat von Heidegger
Nicht es selbst ist, die anderen haben ihm das Sein abgenommen.
Das bedeutet, jeder gehört selbst zu den Anderen. Es kommt ja auf die Perpektive an. Für jemand Anderes oder für etwas Anderes bin ich selbst ein Anderer, des wegeb nehmen die anderen z.B. mir das sein ab. Entscheidend sei, so Heidegger,
Zitat von Heidegger
nur die unauffällig, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen.
Bedeutet die Wendung "übernommene Herrschaft der Anderen", dass ich die Zeuge,Gegenstände benutze?, z.B. das Boot, womit sonst ein Freund gefahren ist. Oder ist die Abständigkeit gemeint, dass ich ausgleichen will? Ist dieses ausgleichen wollen nicht auch eine Kommunikation, damit wir die Anderen verstehen und so im Mitsein des Daseins sind?
Uber die Anderen, so stellt Heidegger fest, sind im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist da. Das ist wieder so ein Aussage, die so logisch ist, dass ich mich frage, warum sagt er das überhaupt? Aber wir haben früher schon mal angesprochen, dass uns oft im Text diese Logik, dieses an sich selbstverständliche immer wieder begegnet. Dieser Absatz auf Seite 126 schließt damit, dass das "Wer" einfach nur das Neutrum "Man" ist (also keine bestimmte Person o.ä.)
Der existenziale Charakter des Man ist seine Durchschnittlichkeit. Die Durhschnittlichkeit ist eben dieses, was man allgemein gelten lassen will, was nicht, was sich gehört, was nicht...usw. (Hier sind wir wieder beim Verhaltenskodex, was üblich ist was nicht; also: gehe ich mit einer durchlöcherten Jeans in ein Klassikkonzert, oder ziehe ich lieber etwas ansehnlicheres an, was andere auch tun).
Dann folgt der Begriff der "Einebnung", ich sehe bloß keine Definition des Begriffes, aber es ist wohl so gemeint, dass wir uns in unserem Dasein, was ein Mitsein mit Anderen ist, wir uns einebnen, anpassen. Mit Abständigkeit und Durhschnittlichkeit sind das zusammen die drei Seinsweisen: das Leben mit "Öffentlichkeit", mit Anderen. Diese drei Begriffe ergeben das neutrale "Man".
So weit ersteinmal mit den Definitionen.
Liebe Grüße
mArtinus (schwitzt inzwischen)
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 15:20von Roquairol • 1.072 Beiträge
Kommen wir also zu § 27 und lassen uns Zeit damit, denn es handelt sich um einen ganz zentralen Paragraphen von "Sein und Zeit".
Er wird schon eingeleitet durch den Schluß von § 26: "Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst. Wer ist es denn, der das Sein als alltägliches Miteinandersein übernommen hat?"
Diese Frage wird dann in § 27 beantwortet: Es ist "das Man".
Das Man wird von Heidegger eingeführt durch das Existenzial der "Abständigkeit". Dies meint die Sorge um einen Unterschied (Abstand) gegen die Anderen, wobei die Sorge darin bestehen kann, den Unterschied (z. B. im sozialen Status) zu überwinden, oder aber auch, den Unterschied herzustellen (individuell sein, sich hervortun).
Die Abständigkeit bedeutet aber: "das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen."
Aber wer sind diese Anderen? Es handelt sich nicht um konkrete Andere: "Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das 'Wer' ist das Neutrum, das Man."
Folgende Passage ist fast schon ein Klassiker:
"Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom 'großen Haufen' zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden 'empörend', was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor."
Am Wochenende habe ich eine sehr aufschlußreiche Geschichte gehört, zwar nicht direkt zum Man, aber zu der damit verknüpften "Abständigkeit":
Ein freundlicher Hausbesitzer hat seinen Mietern kostenlos eine Wäschespinne zur Verfügung gestellt, die von diesen aber nicht gebraucht wurde und deshalb jahrelang auf dem Dachboden verstaubte. Eines Tages zog dann eine neue Familie ein, die nichts zum Wäscheaufhängen hatte. Der Vermieter schenkte ihr deshalb die alte Wäschespinne, die ja niemand wollte. Resultat: Helle Empörung der Alt-Mieter, Aufstand, bürgerkriegsähnliche Zustände ...
In Heideggers Terminologie würde das lauten: Die Alt-Mieter sorgen sich um ihren Abstand zu den Neu-Mietern, weil diese durch den Vermieter scheinbar privilegiert worden sind.
Um den Konflikt beizulegen, kaufte der Vermieter schließlich eine neue Wäschespinne für die Alt-Mieter ...
Der existenziale Charakter des Man ist die Durchschnittlichkeit. Das Man sorgt sich darum, in der Durchschnittlichkeit zu bleiben und nicht darüber zu steigen oder darunter zu sinken. Daraus folgt die "Tendenz zur Einebnung aller Seinsmöglichkeiten".
Abständigkeit, Durchschnittlichkeit und Einebnung konstituieren "die Öffentlichkeit". Sie regelt alle Weltauslegung und hindert uns daran, die Phänomene selbst in den Blick zu nehmen. "Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus."
Das Man nimmt dem Dasein die Verantwortlichkeit ab. Wenn "man" im Krieg Menschen tötet, ist der einzelne dafür nicht zu belangen, "keiner" ist es gewesen. - Darum ist das Man "Niemand".
"Man ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit". Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Das zentrale Anliegen von Heideggers gesamter Philosophie ist die Überwindung dieser "Uneigentlichkeit".
"Diese Weise zu sein [das Man] bedeutet keine Herabminderung der Faktizität des Daseins"
Ein wichtiger Satz! Es geht also gerade nicht darum, zu sagen: Die doofe Masse ist vom Man gelenkt, ich aber bin auf dem Weg zum eigentlichen Sein. Sondern das Man ist einfach die Realität des Daseins im Alltag.
Dies widerspricht also den Heidegger-Kritikern, die sein "Man" in einem Atemzug z.B. mit Ernst Jüngers Verachtung der Masse nennen. Wenn es in Jüngers Tagebüchern heißt:
"Mit Friedrich Georg im Zoo, wo billiger Sonntag war. Der Anblick der Massen ist bedrückend ..."
- dann ist diese Haltung von der Heideggers grundlegend verschieden.
"Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt dem eigens ergriffenen Selbst unterscheiden."
Also das Selbst muß sich erst finden und ergreifen, um sich als eigentliches Selbst zu verwirklichen. Ansonsten bleibt es "in das Man zerstreut".
"Zunächst 'bin' nicht 'ich' im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir 'selbst' zunächst 'gegeben'."
Der Prozeß der Selbst-Findung sieht dann so aus, daß ich die "Welt" entdecke und das Dasein erschließe, indem ich die Verdeckungen und Verdunkelungen durch das Man wegräume, "Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt."
Heidegger kritisiert an der traditionellen Ontologie, daß sie sich ihre Grundvoraussetzung vom Man vorgeben läßt. Dadurch erscheint das Sein als bloßes Vorhandensein, die Welt zerfällt in einzelne Dinge, und das eigentliche Phänomen der Welt bzw. das Sein als In-der-Welt-sein wird übersehen.
Wie wir in den ersten Kapiteln erfahren haben, ist Sein "In-der-Welt-sein". Die Welt besteht nicht aus einzelnen, bloß "vorhandenen" Dingen, sondern ist eine "Bewandtnisganzheit", d.h. die Dinge stehen auf verschiedenste Weise (z.B. als "Zeug") miteinander in Zusammenhang.
Ich erfahre den Platz, an dem ich mich befinde, nicht als eine Ansammlung zusammenhangloser Dinge: ein Tisch, ein Laptop, eine Schale mit Pfirsichen, ein schlafender Kater ... Sondern dieser Platz mit all seinen "Dingen" bildet eine organische Einheit. Natürlich kann ich ein einzelnes Ding darin identifizieren, indem ich meine Aufmerksamkeit speziell darauf richte - nur ist das nicht die Art und Weise, wie ich "zunächst und zumeist" das Sein erfahre. Als erstes erlebe ich immer die Ganzheit der "Welt".
Und dies, also die "Weltlichkeit der Welt", haben die "alten" Ontologen nicht verstanden, die wie Descartes das Sein zunächst in der Substanz einzelner, isolierter Dinge finden wollten.
"Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials."
Hier wird's am Ende von § 27 noch mal richtig kompliziert. Völlig verstehen können wir diesen Satz wohl erst später. - Klar ist und bleibt jedenfalls, daß es für Heidegger kein "Subjekt" gibt. Das Ziel der Selbst-Werdung ist deshalb auch nicht so vorzustellen, daß ein Subjekt sich vom Man ablöst, um dann außerhalb vom Man zu stehen. Vielmehr ist es so, daß es zunächst weder "ich" noch ein Subjekt gibt, sondern nur das Man (man-Selbst). Nach der Selbst-Findung gibt es das Man nicht mehr, auch nicht außerhalb von "mir"! Nicht das Subjekt, sondern das Man wurde verwandelt!
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 15:23von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
du schreibst:
Zitat von Martinus
Das bedeutet, jeder gehört selbst zu den Anderen.
und:
Zitat von Martinus
Bedeutet die Wendung "übernommene Herrschaft der Anderen", dass ich die Zeuge,Gegenstände benutze?, z.B. das Boot, womit sonst ein Freund gefahren ist. Oder ist die Abständigkeit gemeint, dass ich ausgleichen will? Ist dieses ausgleichen wollen nicht auch eine Kommunikation, damit wir die Anderen verstehen und so im Mitsein des Daseins sind?
Du musst dir das Man und die übernommene Herrschaft einfach als alltägliches Treiben in einer Gesellschaft vorstellen. Das heißt nicht, dass du Gegenstände benutzt oder selbst zu den anderen gehörst, das bedeutet ganz klar, dass die Entscheidungen, die du im Aufgehen in der Gesellschaft und im Man triffst, zunächst nicht deine eigenen sind, sondern solche, die dir die Gemeinschaft und das Man diktiert. Du ergreifst z. B. einen Beruf, weil man das so macht, du versuchst in diesem Beruf erfolgreich zu sein, weil man Erfolg als Richtlinie setzt. Du richtest also dein Streben nach den Bedingungen aus, die um dich herum herrschen.
Ich fasse auch noch einmal aus meiner Sicht zusammen:
Dasein ist im Aufgehen anderer nicht es selbst. Das „Man“ hat das alltägliche Miteinandersein übernommen.
Andere sind das, was sie betreiben, wie auch Dasein ist, was es tut. In diesem Besorgen liegt ständig die Sorge um den Unterschied zu Anderen. Existenzial ausgedrückt sprechen wir von dem Charakter der Abständigkeit. Wir versuchen den Abstand zwischen uns und anderen auszugleichen, zu verringern, kurz: mit den anderen mitzuhalten. Das zeigt sich z. B. auch in solchen Gesellschaftsentwicklungen wie "mit der Mode gehen", sich besser zu fühlen, weil man erfolgreich ist... Das ist nicht im negativen Sinne gemeint, sondern Heidegger sagt ganz klar, dass das Verfallensein an das Man Normalität ist. Jeder strebt nach der Gemeinschaft und will sich in ihr erhalten, sich anpassen.
Damit ist das Sein nicht mehr, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. Dabei handelt es sich nicht um bestimmte Andere, sondern um unbestimmte, die jeder sein kann. Das „Wer“ ist Neutrum, das „Man“, das sich in Unauffälligkeit entfaltet und herrscht. (126) „Wir genießen und vergnügen uns, wie „man“ genießt, wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie "man" sieht und urteilt…“
Das Man ist also alle und niemand und schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor. Das Man hat den existenzialen Charakter der Durchschnittlichkeit. Es hält sich an all das, was durchschnittlich gilt. Alles, was Dasein tut, wird daran gemessen und darauf angepasst. Hier sagt Heidegger ausdrucksstarke Sätze: (127) „Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft.“
Das nennen wir „Einebnung“ aller Seinsmöglichkeiten.
Die Öffentlichkeit besteht also aus Abständigkeit, Durchschnittlichkeit und Einebnung. (127) „Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht.“
Sie behält darum Recht, weil sie verallgemeinert, weil sie unempfindlich gegen alle Unterschiede von Niveau und Echtheit ist. Sobald Dasein aber Entscheidungen treffen muss, zieht sich das Man wieder zurück. Es bestimmt die Entscheidung, nimmt sie aber nicht ab. Es entlastet höchstens das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Wir berufen uns darauf, wie „man“ handelt. Das ist einfacher, als selbst festlegen zu müssen, wie zu handeln ist. Wir lernen ja auch durch das Man, können also oftmals gar nicht anders. Oder wie Heidegger sagt: (127) „Das Man kann es sich gleichsam leisten, dass „man“ sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner ist, der für etwas einzustehen braucht.“
Und durch all die Seinsentlastungen behält das Man seine Herrschaft. Je häufiger es sich zeigt, desto verborgener liegt es. Das Man verschwindet unter den Gewohnheiten aller.
Das Dasein lebt in Unbeständigkeit und Uneigentlichkeit im Man, welches Niemand, aber nicht Nichts und schon gar kein über allem schwebendes „allgemeines Subjekt“ ist, als die Realität, also Normalität. Und solange wir im Man den anderen gleichen und uns verhalten, wie sie, fühlen wir uns sicher und gut aufgehoben, da wir uns an diesem Gesellschaftsstrom orientieren, unsere Entscheidungen nach Maß treffen können.
„Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins.“ Positiv, weil wir erst im „Man“ aufgehen müssen, um uns selbst finden zu können. Erst, wenn wir uns das eigene Sein erschließen, Welt entdecken, durchbrechen wir das, was verdeckt oder verdunkelt ist, wie z. B. die Öffentlichkeit, die alles als gegeben verschwimmen lässt, in der wir uns, als das, was „man“ tut, ausruhen und führen lassen.
Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das sich vom eigentlichen Selbst unterscheidet. Als das Man-selbst ist Dasein in das Man zerstreut und muss sich erst finden.
Das eigentliche Selbstsein ist kein abgelöster Ausnahmezustand des Subjekts, sondern eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 15:43von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Du musst dir das Man und die übernommene Herrschaft einfach als alltägliches Treiben in einer Gesellschaft vorstellen. Das heißt nicht, dass du Gegenstände benutzt oder selbst zu den anderen gehörst, das bedeutet ganz klar, dass die Entscheidungen, die du im Aufgehen in der Gesellschaft und im Man triffst, zunächst nicht deine eigenen sind, sondern solche, die dir die Gemeinschaft und das Man diktiert. Du ergreifst z. B. einen Beruf, weil man das so macht, du versuchst in diesem Beruf erfolgreich zu sein, weil man Erfolg als Richtlinie setzt. Du richtest also dein Streben nach den Bedingungen aus, die um dich herum herrschen.
Ja, Taxine. Die Uneigentlichkeit. Roquairol hat das ja auch gerade erläutert. Worüber ich mich nun Frage, wie komme ich ode r du oder man aus diesem Dilemma heraus. Es wäre auch interessant zu wissen, was Heidegger zur Pasychologie für eine Meinung hatte, die ja darauf erpicht ist, sein Selbstbewusstsein zu entfalten, seine eigene Identifikation. Wenn wir aber nun ständig in der Durchschnittlichkeit des Man uns befinden, ist es wirklich zu hinterfragen, wo denn unser Selbstbewusstsein bleibt. Worin heben wir uns (aus der Masse) hervor, wo wir wirklich nur selbst sind. Darum ist auch zu verstehen, warum gerade dieses Kapitel von zentraler Bedeutung ist.
Ja eben diese "Selbstfindung" - wie geht das? (auf jedenfall nicht einfach).
Und wenn ich denke, wie oft ich in dem Man verfangen bin, na, ja Prost.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 15:46von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, Roquairol und ich haben fast gleichzeitig unsere Beiträge gesetzt.
Wie Dasein eigentlich wird, dazu kommt Heidegger noch. Das Mit-sein ist Voraussetzung für das Dasein, das Man kann aber überwunden werden und wird auch, sobald sich Dasein auf seine Sterblichkeit besinnt und auf sein Geworfensein. Das wird alles noch ganz genau erläutert. Im Moment sind wir ganz Gesellschaft (Alltäglichkeit und Öffentlichkeit) und in ihr das, was wir tun.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 15:53von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
... das Man kann aber überwunden werden und wird auch, sobald sich Dasein auf seine Sterblichkeit besinnt und auf sein Geworfensein.
Ich denke, dass passt jetzt:
.................
Den letzten Schritt
Mußt du gehen allein.
Drum ist kein Wissen
Noch Können so gut,
Als daß man alles Schwere
Alleine tut.
aus Hesse "Allein"
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 16:00von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, sobald Dasein erkennt, dass Sterben ein Allein-Gang ist, kein "Man" für es einspringen kann, kann es sich auch im Jetzt leisten, das Man nicht mehr für sich einspringen zu lassen...
Auch Nabokov passt, denn all das hängt damit zusammen:
Wie dumm! Die irrige Vorstellung von der Zeit als einer Art Wachstum ist eine Folge unserer Endlichkeit, die, da sie sich immer auf der Ebene der Gegenwart befindet, sich als ständigen Aufstieg zwischen dem wässrigen Abgrund der Vergangenheit und dem luftigen Abgrund der Zukunft versteht. Das Dasein ist somit eine ewige Verarbeitung von Zukunft und Vergangenheit – im Wesentlichen ein gespenstischer Prozess -, ein bloßes Abbild der stofflichen Metamorphosen, die sich in uns abspielen. Unter diesen Umständen läuft der Versuch, die Welt zu begreifen, auf den Versuch hinaus, das zu begreifen, was wir selber absichtlich unbegreiflich gemacht haben.
(...zitiert aus Nabokov "Die Gabe")
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 22.11.2011 17:27von Roquairol • 1.072 Beiträge
Hallo Martinus,
Zitat von Martinus
Es wäre auch interessant zu wissen, was Heidegger zur Psychologie für eine Meinung hatte, die ja darauf erpicht ist, sein Selbstbewusstsein zu entfalten, seine eigene Identifikation.
Zu den ganzen (Populär-)Psychologien, die immer von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung reden, würde Heidegger wohl sagen, dass sie meistens ein seichter Abklatsch seiner eigenen Philosophie seien. Und er hätte vollkommen recht damit ... Soweit ich das überblicke, stammt der Gedanke, dass das "Selbst" des Menschen etwas ist, das erst noch "verwirklicht" werden muss, tatsächlich von Heidegger - das gab es vor ihm nicht!
Nur kann sich das Selbst bei Heidegger nicht dadurch verwirklichen, dass es sich "spontan" seinen Launen hingibt. Hier liegt der wesentliche Unterschied zu den Selbstverwirklichungs-Psychologen. Aber wie sich dies nun genau bei Heidegger verhält, ist eine Frage, die uns noch viele Kapitel in "Sein und Zeit" beschäftigen wird.
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