HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Zitat von Jatman1 im Beitrag #30
@Taxine
"Sie schreibt schon sehr aus der weiblichen Sicht."
Schließt sich wunderbar ans Thema an. Auch da sind ein paar monierende Fem... vermutlich nicht weit.
Nein, das meinte ich gar nicht. Es ist vielmehr aus weiblicher, daher sehr emotionaler Sichtweise geschrieben.
Mittlerweile gerät Russland gerade ins vorrevolutionäre Chaos mit der Übergangslösung "Kerenski". Was mir besonders gefällt, dass es eben aus der Sicht der Aristokratie geschrieben ist und Rachmanowa ein sehr gutes Gespür für die Ungerechtigkeit der Vorgänge entwickelt.
"Die Soldaten und Arbeiterräte haben einen Ukas herausgegeben, dass nur sie allein das Recht hätten, Arreste und Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Wo ist denn die provisorische Regierung? Wer regiert uns denn eigentlich? Wo ist die versprochene Rede- und Versammlungsfreiheit, wo ist die Freiheit der Meinungsäußerung?"
oder
"Man fürchtet bei uns die Miliz nicht weniger als Räuber und Mörder.
Es kursiert bei uns eine hübsche Anekdote: Ein Fräulein ersucht abends einen vorübergehenden Herrn: "Bitte, begleiten Sie mich um jene Ecke, ich fürchte mich so, dort steht nämlich ein Milizionär!""
Man kann in ihren Zeilen sehr gut diese Zeit und Umbruchsphase nachempfinden. Zum Beispiel, wenn sie beschreibt, wie die Städte allmählich zerstört werden und verdrecken. Gefällt mir immer besser.
Art & Vibration
"Es ist vielmehr aus weiblicher, daher sehr emotionaler Sichtweise geschrieben. "
Schmunzel. Ja ja, so habe ich es auch verstanden
www.dostojewski.eu
Das, was Rachmanowa dann von der Machtergreifung der Bolschewiki berichtet, ist tatsächlich alles andere als naiv, gefühlsbeladen oder ähnliches. Schrecklich sind die Ereignisse, die das ganze Land ergreifen und schnell auch ihre eigene Familie betreffen.
"Jetzt vergessen wir schon niemals mehr, dass gleich hinter unseren Fenstern das Ungeheuer "Straße" droht, das ein Recht auf unser Eigentum und unser Leben zu haben glaubt."
Grausam stirbt ihre Großmutter unter den Händen der Bolschewiki, der Großvater, ein Staretz und Einsiedler, der zuvor noch als heilig betrachtet wurde und nun vor allen Augen gepfählt wird, also hingeschlachtet, um zu beweisen, dass Gott nicht existiert.
"Und das Volk schaute zu, glotzte drein und schwieg ... schwieg ... Wer kann so schweigen wie das russische Volk?"
Die Veränderungen geschehen ganz eigenartig. Auf einmal ist sowohl die Schreiberin der Tagebücher als auch mit ihr der Leser mitten im Geschehen. Rachmanowa erzählt dabei alles so schlicht und ergreifend, dass man es kaum fassen kann. Kinder werden ermordet, Gläubige gefoltert, die Grausamkeit ist kaum zu überbieten. Die Arbeiter und Soldaten wüten mit ihren schläfrig lieben Gesichtern und aus den Befehlen ihrer Anführer brennt der reinste Wahnsinn.
Natürlich war mir klar, dass all das, was sie erlebt hat, nicht schön ist. Aber ich bin wahrlich erschüttert, wie sie schreibt, woher sie den Mut genommen hat, in diesen Zeiten weiter ihr Tagebuch zu führen, wo andere schon für weniger gestorben sind. Und die Tragik der Ereignisse vermischen sich mit der Entwicklung in ihren Zeilen, die immer mehr das Naive durch die Erfahrungen hinter sich lassen und zu einem nüchtern berichtenden Ton finden, der unglaublich ist. Was könnte auch besser diesen Verlust der Jugend und Naivität ausdrücken als jene Nachtigall, die sie noch mit siebzehn Jahren im Herzen jedes Menschen glaubt, während sie dann, mit achtzehn Jahren, schreibt, dass diese nicht existiert, in den Herzen der Menschen nur ein großes, düsteres, gefräßiges Tier wütet.
Zitat von Rachmanowa
"Wenn man hört, dass der und jener erschossen wurde, überläuft es seinen kalt vor Schrecken. Wenn dies aber mit einem Menschen geschieht, den man Tag für Tag sieht, den man schätzt und liebt, wie den Vater Alexander, dann ist es so entsetzlich, so unwahrscheinlich, dass man es überhaupt nicht mehr fassen kann. Man glaubt, man lebt nicht mehr, man wird stumpf und tot."
Erschütternde Tagebücher. Wirklich erschütternd.
Art & Vibration
Danke für die klaren Worte. Die Bücher werde ich dann wohl nicht lesen. Sowas kann und will ich mir nicht geben.
www.dostojewski.eu
Zitat von Taxine im Beitrag #33
Das, was Rachmanowa dann von der Machtergreifung der Bolschewiki berichtet, ist tatsächlich alles andere als naiv, gefühlsbeladen oder ähnliches. Schrecklich sind die Ereignisse, die das ganze Land ergreifen und schnell auch ihre eigene Familie betreffen.
"Jetzt vergessen wir schon niemals mehr, dass gleich hinter unseren Fenstern das Ungeheuer "Straße" droht, das ein Recht auf unser Eigentum und unser Leben zu haben glaubt."
Grausam stirbt ihre Großmutter unter den Händen der Bolschewiki, der Großvater, ein Staretz und Einsiedler, der zuvor noch als heilig betrachtet wurde und nun vor allen Augen gepfählt wird, also hingeschlachtet, um zu beweisen, dass Gott nicht existiert.
"Und das Volk schaute zu, glotzte drein und schwieg ... schwieg ... Wer kann so schweigen wie das russische Volk?"
Die Veränderungen geschehen ganz eigenartig. Auf einmal ist sowohl die Schreiberin der Tagebücher als auch mit ihr der Leser mitten im Geschehen. Rachmanowa erzählt dabei alles so schlicht und ergreifend, dass man es kaum fassen kann. Kinder werden ermordet, Gläubige gefoltert, die Grausamkeit ist kaum zu überbieten. Die Arbeiter und Soldaten wüten mit ihren schläfrig lieben Gesichtern und aus den Befehlen ihrer Anführer brennt der reinste Wahnsinn.
Natürlich war mir klar, dass all das, was sie erlebt hat, nicht schön ist. Aber ich bin wahrlich erschüttert, wie sie schreibt, woher sie den Mut genommen hat, in diesen Zeiten weiter ihr Tagebuch zu führen, wo andere schon für weniger gestorben sind. Und die Tragik der Ereignisse vermischen sich mit der Entwicklung in ihren Zeilen, die immer mehr das Naive durch die Erfahrungen hinter sich lassen und zu einem nüchtern berichtenden Ton finden, der unglaublich ist. Was könnte auch besser diesen Verlust der Jugend und Naivität ausdrücken als jene Nachtigall, die sie noch mit siebzehn Jahren im Herzen jedes Menschen glaubt, während sie dann, mit achtzehn Jahren, schreibt, dass diese nicht existiert, in den Herzen der Menschen nur ein großes, düsteres, gefräßiges Tier wütet.Zitat von Rachmanowa
"Wenn man hört, dass der und jener erschossen wurde, überläuft es seinen kalt vor Schrecken. Wenn dies aber mit einem Menschen geschieht, den man Tag für Tag sieht, den man schätzt und liebt, wie den Vater Alexander, dann ist es so entsetzlich, so unwahrscheinlich, dass man es überhaupt nicht mehr fassen kann. Man glaubt, man lebt nicht mehr, man wird stumpf und tot."
Erschütternde Tagebücher. Wirklich erschütternd.
Ich habe mich eingehend mit der Zeit des Stalinismus beschäftigt. Und um so mehr ich darüber las, um so weniger konnte ich dieses maßlose Grauen fassen. Man kann einfach nicht nachvollziehen, nicht einmal im Ansatz, wie es möglich ist, das eigene Volk auszurotten.
Welch tiefe, vielleicht nie heilende Wunden müssen dem russischen Volk da geschlagen worden sein?
Und vielleicht das Grauenvollste dabei, das dieses sich und nur in anderer Form, unter anderen Fahnen und Parolen, jederzeit wiederholen kann und wohl auch wird.
"Und vielleicht das Grauenvollste dabei, das dieses sich und nur in anderer Form, unter anderen Fahnen und Parolen, jederzeit wiederholen kann und wohl auch wird."
leider ja
Wer zu diesem Wahnsinn, eine nüchternes Buch lesen möchte, dem kann ich empfehlen:
Ein Staat gegen sein Volk - Das Schwarzbuch des Kommunismus - Sowjetunion; Nicolas Werth
Das Buch ist der Wahnsinn. Unglaublich. Spannend, aufregend, erklärend und niederschmetternd. Es war der Auslöser für das darauffolgende Buch: Der Archipel Gulag von Solschenizyn.
Auch dieses Buch ohne jeglichen Abstrich jedem nahezulegen. Sozusagen Draufsicht und Nahaufnahme.
www.dostojewski.eu
Ja, mit dieser Zeit habe ich mich auch ausführlich beschäftigt. Rachmanowas Bericht fällt ja noch in die Zeit davor, wo die Bolschewiki gerade an die Macht kommen. Dass auch zu dieser Zeit schon so viel Grauenvolles geschah, war mir gar nicht so bewusst. Das alles hat dann immer schlimmere Ausmaße angenommen.
Art & Vibration
Den Archipel Gulag werde ich nicht noch einmal lesen, viele andere Bücher dieses Themas auch nicht. Ich brauche mehr Ruhe, Milde und Sanftheit, in meinem Kopf.
Vielleicht sollte ich deshalb und zwischendurch wieder einmal zu meinem lieben und mir immer guten Jean Paul greifen.
(Zur Zeit fümpf Gäste hier, das ist ja fast schon wie Woodstock!)
Nun endlich angefangen: Werner Mittenzwei „Das Leben des Bertolt Brecht, oder - Der Umgang mit den Welträtseln“, Aufbau-Verlag, 2 Bände, rund 1500 Seiten.
Da ich ein großer Verehrer der Lyrik Brechts bin, so freue ich mich dann besonders auf dieses Lesevergnügen.
(Man kann sagen was man da möchte, Brecht war durchaus ein genialischer Mensch und er liebte die Frauen sehr...)