HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Die 10.000 Hits im anderen Ordner "Dostojewski" sind überschritten, 507 Beiträge wurden geschrieben, wir machen für die bessere Übersicht weiter in diesem Thread.
(Falls noch offene Gedanken im anderen Ordner herumliegen, bitte einfach hierher kopieren und darauf eingehen. Vielen Dank.)
Auch der zweite Ordner enthält weiterhin alles über Dostojewski.
Rezensionen, Material, Gedankenaustausch, Hinterfragungen, Einschätzungen, Meinungen ... usw.
(Das Bild finde ich übrigens stark:)
(Quelle: Jatmans Dostojewski Seite)
Art & Vibration
RE: Dostojewski 2
in Die schöne Welt der Bücher 04.11.2012 21:44von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von fedja im Beitrag RE: DostojewskiZitat
auch in der Darstellung des Charakters Dostojewskis im Film
sorry, der Thread hat ja schon "ächt Dostojewski'sche" Ausmaße. Darf ich deshalb ganz blöd zwischenfragen, bevor es mit der Emanzipationsfrage weitergeht: welcher Film?
LG, F.
Ja, genauer geht es um die Verfilmung von Khotinenko. Hier sind alle Teile im Ganzen zu sehen. Film ab.
Art & Vibration
RE: Dostojewski 2
in Die schöne Welt der Bücher 04.11.2012 22:02von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Jatman1 im Beitrag RE: Dostojewski
Ich muss mir Mühe geben um politisch korrekt zu bleiben
Es besteht eine klare feminstische Tendenz. Leider vergeben sich die Vertreter dieser Richtung immer sehr viel mit ihrem anmaßenden belehrenden und nur partiell reflektierendem Rumgiften. In dem Fall sind ganz nach den Ärzten die Männer Schweine. Sie nützen sie aus, die Frauen, diese irgnoranten Kerle. Was wären sie denn ohne die Frauen?! Da ist die Beziehung Anna Fjodor natürlich ein gefundenes Fressen. Er bestimmt wo es langgeht und sie ordnet sich unter. So der kurze und klare Vorwurf. Er wird aber nicht abgewogen. Ich bin ja nun kein Anna-Fan. Das hat sie aber nicht verdient. Die Frau ist gut bis besser weil der Mann ja perse schlecht gegen die Frau ist, da ihm ja wiederum generell überlegen ist. Wie gesagt, mit dem Duktus mit dem solcher KämpferInnen antreten, macht ihr eigentlich nachvollziebares Anliegen suspekt.
Was aber ist gut?! Der Text ist aufgehangen an Gruschenka aus den Brüdern Karamasow. Die Autorin ergreift für Gruschenka Partei. Sie feiert Gruschenka, weil sie IHR Ding macht. Und erst recht weil, das zu der Zeit nicht sein durfte. Die Frau macht einfach mal, das was man Männern nie ankreiden würde. Schön beschrieben. Gute Idee. Und dann verfällt sie Anna zum willenlosen Sklavin zu verhöhnen. Geht schon in die Richtung gehässig. Die Autorin ergreift lediglich den doch recht fürsorglichen Teil, jedoch ohne auch nur einmal aufblitzen zu lassen, dass die Frau auch für Ihre Zeit mehr als durchschnittliche Größe an den Tag gelegt hat. So spricht sie Dostojewski einfach mal so beiläufig "Frauenverachtende Ignoranz" nach. "Emanzipation - für Dostojewski eine schimpfliche Entgleisung".
Sicherlich war er kein feministischer Vorreiter, auch existierte nicht selten ein großer Widerspruch zwischen persönlichen Bedürfnissen und intellektuellen Anwandlungen betreffs der Frauenrolle. Ihn faszinierte ein Frauentyp, mit dem er nichts anfangen konnte und umgekehrt eben auch nicht. Für die Zeit war es auch nicht zwangsläufig regulär, die Frau an sich ernst zu nehmen. In welcher Rolle ist dann wieder eine andere Frage. Wie es aber so bei D ist - jeder kann sich seine passenden Zitate bei ihm zusammensuchen. Und genau dieser Hintergrund macht es notwendig diffrenziert, was nicht wohlwohlend bedeuten muss, auf die Person Dostojewski zu sehen.
Damit das Bild vom reaktionären Schwein Dostojewski noch rund wird, fokussiert sich die Autorin, dann auf seine panslawische Vision und hängt sie ihm als Markenzeichen um den Hals. Frauenbilder in Dostojewskis Werk eingehend zu beleuchten ist mit Sicherheit lohnenswert, aber doch bitte etwas ausgewogener. Zum Ende konnt ich immerhin wieder ein wenig schmunzeln, da sie dort anklingen lässt, dass sie seine Bücher trotzdem sehr mag.
Bei Ken Wilber hieß es so schön, dass Frauen, die permanent nach Unterdrückung in der Vergangenheit suchen, die Frau, die sie ja verteidigen, zu einer schwachen Persönlichkeit degradieren. Frauen waren nie schwach, auch wenn ihnen alle möglichen Zugänge verwehrt und sie in einigen Bedingungen benachteiligt waren, ganz einfach darum, weil die Zeit und das Leben diese Einteilung der Aufgaben nach Bedarf bestimmte. Die Frau war Familien-Verantwortliche, der Mann sorgte für den Unterhalt. Dass nach und nach die Emanzipation durchbrach, Frauen ihre Rechte erhielten, sich endlich bilden konnten, usw. ist natürlich großartig, allerdings auch zeit-bedingt. Die Entwicklung bestimmte diese Veränderungen und Befreiungen, die Arbeit wurde leichter, die Aufgaben wurden neu verteilt. Ebenso die Rechte.
Ich finde Frauen, die nach dem Schwein "Mann" suchen, auch gruselig. Die Einstellung zur Frau muss man immer in ihrem Zeitkontext betrachten. Dostojewskis Zeit war noch ganz und gar durch die Einteilung und Aufgabe - Mann und Frau - bestimmt. Wenn seine Äußerungen daraufhin ausgerichtet sind, kann man ihm aus der heutigen Zeit keinen Vorwurf machen, nur weil er, wie du ja auch schon sagst, Jatman, kein Vorreiter der Frauenbewegung war. Er reihte sich in seinen Überzeugungen ganz in die damalige Ansicht ein. Auch suchte er vielleicht nach einer Art Halt und Stütze in der Frau, das kann alles sein.
Tatsache ist, dass er sich von starken Frauen angezogen fühlte und diese auch in seine Werke fanden. Frauenverachtende Ignoranz kann ich in seinen Romanen nicht finden. Zum Beispiel sind alle Frauen im "Jüngling" auffallend selbstbewusste Typen, zumindest die, die im Vordergrund stehen. Eine schnappt sich einen alten Fürst, die andere ist seine Tochter und kämpft um ihr Erbe, eine weitere beschimpft als Zeitvertreib alle Männer. Die Nächste bekommt ein uneheliches Kind usw. Wenn überhaupt jemand schwach und unterdrückt ist, dann sind es eher die Männer. Der alte Fürst, der kränkelnde Jüngling, der junge Fürst, der Selbstmörder Krafft und andere. Somit will, nach Ansicht der Feministin, Dostojewski wohl darauf verweisen, dass Frauen die Männer beherrschen und unterdrücken??? Wenn überhaupt, so hat Dostojewski die Frauen einfach nicht so ganz durchschaut oder ihnen viel Macht zugesprochen (was in vielen klassischen Werken der Fall ist, wo die Frau ihre Rolle als verhängnisvolle Verführerin annimmt). Im "Jüngling" heißt es:
Zitat von Dostojewski
"Oh, der Mann befindet sich entschieden in moralischer Sklaverei gegenüber der Frau, besonders wenn er großmütig ist! So eine Frau kann einen großmütigen Mann alles glauben machen. (...) ihre wahren Gefühle konnte wirklich nur Gott allein kennen, der Mensch aber ist doch überdies eine so komplizierte Maschine, dass man in manchen Fällen wirklich nicht aus ihm klug werden kann, und nun gar, wenn dieser Mensch eine Frau ist."
Anna Grigorjewna, betrachtet man ihre Tagebücher, war durchaus keine unterwürfige, kleine Hausfrau, die ihr Leben für den großen Schreib-Gott gab. Nein. Dostojewski und sie hatten eine sehr starke Beziehung, die sich ergänzte. Sie kümmerte sich dabei um mehr als nur die Familie.
Als sie sich kennenlernten, war sie eben noch sehr jung. Mit der Zeit und den ganzen Erfahrungen (sie hat ja durch die Reisen und das Leben im Ausland auch mehr erlebt als andere Frauen ihrer Zeit) konnte sie sich auch immer mehr durchsetzen. Dostojewski war sicherlich ein schwieriger Charakter. Ich stelle mir alleine vor, wie sie dort in Dresden auf ihn wartete, während er das Reisegeld immer wieder aufs Neue verspielte. Oder die Anfälle und seine Launen danach ... Solche Momente sorgen automatisch dafür, dass die Frau stärker daraus hervorgeht. Und das ist sie auch.
Bei Dostojewski im Werk verzweifelt nach Frauenbildern zu suchen, die das Anti-Emanzipierte beweisen sollen, halte ich auch für überholt. Dass ist ähnlich, wie man Nietzsche die Peitsche vorhält, während er einer der ersten Männer war, die sich für die Frau und ihre Bildung einsetzten. Er war übrigens auch von starken Frauen fasziniert, wenn auch geprägt von Enttäuschungen, die dann seine Ansicht eben leiteten. Nietzsche vorzuwerfen, er sei ein Frauenhasser gewesen, ist für mich ähnlich wie Dostojewski als Schwein zu bezeichnen, nur weil er ein Mann war und in seiner Zeit die gleiche Auffassung von der Frau teilte, wie sie allgemein üblich war.
Art & Vibration
Ich hätte zur Beantwortung der Frage ebenfalls zu allererst auf die Qualität der Frauenfiguren in Dostojewskis Werken geschaut - und schon kann D. eigentlich gar nicht ganz schlecht dastehen :-)
Anna Grigorjewna erscheint mir aus Ihren Tagebüchern und Briefen als kluge, lebenstüchtige Frau, die Stärken und Schwächen ihres Gatten durchaus realistisch sah, dabei aber auch "liebende Ehefrau" war. Sie hat ihn meines Erachtens nicht vergöttert, wohl aber Seiten an ihm gesehen, die anderen verborgen blieben. Sie ist keine madonnenhafte Persönlichkeit, sondern verhält sich durchaus ihrem Alter und Horizont entsprechend, aber sie reift in der Beziehung und wird so bald zu einer Stütze für Dostojewski, ohne hinter ihm völlig zu verschwinden.
LG, F.
„Frauen waren nie schwach“
Sehr gute und unzweifelhafte Feststellung. Zudem ein schönes Drehen, der Argumentationskette. Du hast damit wunderbar dem feministischen Overload den Spiegel vorgehalten und kannst ihn damit bannen, wie der Knoblauch den Vampir.
„Frauenverachtende Ignoranz kann ich in seinen Romanen nicht finden“
Deswegen hatte ich das Zitat auch ausgewählt. Die Autorin gibt sich hier voll die Blöße, das sie sich geradezu in derben schlichten Klischees suhlt.
Ja der Kontext.
> Wir reden über eine Zeit, da Gutsbesitzer ihre Leibeigenen bei jedem Wetter im Garten den ganzen Tag als Statue stehen ließen, weil es billiger war als echte Statuen zu kaufen.
> Wir reden über eine Zeit, wo man junge schöne intelligente Frauen aus jeder Ehe und jeder Familie ungefragt spontan herauskaufen konnte und es auch reichlich tat. Und bei einem guten! Preis erzielte so eine Frau, ein viertel dessen was man für ein gutes Pferd hinlegen musste.
> Wir reden über eine Zeit, da jeder Seelenbesitzer so viele seiner leibeigenen Frauen schänden konnte solange er wollte, um sie sich danach selbst zu überlassen. Dass Ehefrauen hätten Einwände dagegen haben dürfen, ist wohl kaum anzunehmen.
„Das Bild finde ich übrigens stark“
Weshalb denn konkret? Meine Vermutung: Er sieht auf dem Bild nicht so sinnierend aus. Nicht so leidend. Nicht so weltenrückt. Nicht so hager. Er hat ein leichtes Schmunzeln drauf. Wirkt robuster. Sein Blick ist nicht so düster.
Kurz um – er wirkt hier eher wie ein Mensch aus Fleisch und Blut; im Gegensatz zu den vielen anderen bildlichen Darstellungen oder aber auch den Denkmälern von ihm.
Es ist doch erstaunlich, wie viele passende Zitat, du spontan dem Jüngling entnehmen kannst. Insbesondere da das Buch nicht selten als blass übergangen wird. Würdest Du gerade die Karamasows lesen, könnte man sich Dostojewskijscher Weisheiten vermutlich kaum erwehren.
Deine spontane Zitatenfindung, schiebt mich weiter in Richtung, es doch tatsächlich nochmals mit einem Stück Dostojewski him self zu wagen. Mit dem Jüngling bin ich ja vor gut einem Jahr gescheitert. Vielleicht versuche ich es mit etwas, dass ich gut in Erinnerung habe, dem Doppelgänger. Eine Leserunde mit mir macht ja per Definition keinen Sinn, so werde ich einfach unambitioniertes Gedankenspaming betreiben.
www.dostojewski.eu
„bald zu einer Stütze für Dostojewski, ohne hinter ihm völlig zu verschwinden.“
Kann man wohl so sagen. Neben, aber auch nur vielleicht, seinen Kindern war sie wohl nicht nur eine, sondern DIE Stütze. Spätestens mit der Verlegung seiner Werke, ist sie partiell aus seinem Schatten getreten. Nach seinem Tode jedoch hat sie sich, eigentlich wieder ausschließlich hinter ihm verkrochen.
Anna:
"Ich lebe nicht im zwanzigsten Jahrhundert und stecke noch ganz in den siebziger Jahren des neunzehnten. Meine Nächsten sind all die Freunde Fjodor Michailowitsch, und meine Gesellaft der Kreis heimgegangener, naher Freunde Dostojewskis, mit ihnen lebte ich, und jeder, der an der Erforschung des Lebens oder der Werke Dostojewskis arbeitet, erscheint mir verwandschafliche nahe." (so kann man sich Einsamkeit und Isolierung auch euphemistisch schön reden. Ihre Tochter wollte ihr da nicht folgen. Darüber ist die Beziehung wohl geborsten. Ich schweife ab)
Der Selbstverlag, den sie ungefragt einfach per Beschluss selbst übernommen hat (nicht Dostojewski abgebettelt hat), ist ein starker Beleg dafür, dass sie nicht nur neben ihm hergeschlichen ist. In der Zeit war das alles andere als normal bzw. eigentlich überhaupt nicht möglich. Und sie hat nicht nur einfach etwas unternommen, sondern hat es erfolgreich gestaltet. Und Gestalten hieß in Sachen Selbstverlag sich zu behaupten – in der Regel GEGEN Männer.
Von einer solchen Fähigkeit dürften selbst heute noch viele Frauen entfernt sein. Männer natürlich auch.
www.dostojewski.eu
Nachtrag zum Lachen. Ich fand diese Anzeige wieder zum Lachen. Selbst dafür lässt sich Dostojewski verbraten.
www.dostojewski.eu
Zitat
Anna:
"Ich lebe nicht im zwanzigsten Jahrhundert und stecke noch ganz in den siebziger Jahren des neunzehnten. Meine Nächsten sind all die Freunde Fjodor Michailowitsch, und meine Gesellaft der Kreis heimgegangener, naher Freunde Dostojewskis, mit ihnen lebte ich, und jeder, der an der Erforschung des Lebens oder der Werke Dostojewskis arbeitet, erscheint mir verwandschafliche nahe." (so kann man sich Einsamkeit und Isolierung auch euphemistisch schön reden. Ihre Tochter wollte ihr da nicht folgen. Darüber ist die Beziehung wohl gebortsen. Ich schweife ab)
Besonders durch die Jahre im Ausland waren Fjodor und Anna stark aufeinander fixiert; das dürfte sich nach der Rückkehr nach Russland fortgesetzt haben, zumal wegen der Spannungen mit den Verwandten Fjodors. Im höheren Alter ist es wiederum schwer, Beziehungen neu aufzubauen. Die Erinnerungen von Ljubow - die muss ich mir dann wohl auch noch besorgen :-)
"Im höheren Alter ist es wiederum schwer, Beziehungen neu aufzubauen"
Zweifelsohne. Ich würde nur meinen, Anna selbst hatte nie auch nur annähernd welche, zu Dostojewskis Lebzeiten.
Anna:
"Er war mir nicht nur ein Gott, er war auch ein Mensch, der wie der Gewöhnlichste seine alltäglichen Züge und Mängel hatte, und nicht immer war er groß; oft sehr oft war er ein großes, krankes, anspruchsvolles, eigensinniges, dem Leben verständnislos gegenüberstehendes Kind. In solchen Augenblicken habe ich all die Schwere des Daseins auf mich nehmen müssen, alle Sorgen lasteten dann auf mir allein, ich verbarg vor ihm alle Schwierigkeiten und Übel materieller Bedrängnis. Nicht einmal krank zu sein erlaubte ich mir in solchen Zeiten."
Sie hatte NICHTS anderes und NIEMANDEN anderen - auch zu Lebzeiten nicht. Ich wüsst jedenfalls von nix. Und trotzdem ist es, ganz nach Taxine, Stärke.
www.dostojewski.eu
Hoffmann (Autorin der ersten deutschen Dostojewski-Biographie; ersch. 1899), die die Witwe Anna Dostojewskaja noch persönlich kennengelernt hatte, gibt in ihrer Dostojewski-Biographie folgendes Zitat Annas an:
„Als ich seine Gattin wurde, da empfand ich nur Verehrung für ihn, aber nach einem Jahre, als ich so viel Liebe und Güte von ihm erfahren hatte, da liebte ich ihn bereits.“
Der Ursprung der Beziehung bildete bis zum Schluss ein, wenn nich DER, Grundpfeiler der Beziehung. Und hier noch das Gegenstück zu der Beziehung:
Am 5 Mai 1867 in einem Brief an A. Suslowa:
“Da mir das Leben seit dem Tod meines Bruders langweilig und schwer geworden war, machte ich ihr einen Heiratsantrag. Sie war einverstanden und jetzt sind wir verheiratet.”
Das hat gepasst.
www.dostojewski.eu
RE: Dostojewski 2
in Die schöne Welt der Bücher 05.11.2012 22:17von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Jatman
„Das Bild finde ich übrigens stark“
Weshalb denn konkret? Meine Vermutung: Er sieht auf dem Bild nicht so sinnierend aus. Nicht so leidend. Nicht so weltenrückt. Nicht so hager. Er hat ein leichtes Schmunzeln drauf. Wirkt robuster. Sein Blick ist nicht so düster.
Ja, weil er da wie ein Mensch aussieht, wie ein atmender, lebendiger, unverkrampfter MENSCH.
Zitat von Jatman
Es ist doch erstaunlich, wie viele passende Zitate, du spontan dem Jüngling entnehmen kannst. Insbesondere da das Buch nicht selten als blass übergangen wird. Würdest Du gerade die Karamasows lesen, könnte man sich Dostojewskijscher Weisheiten vermutlich kaum erwehren.
Deine spontane Zitatenfindung, schiebt mich weiter in Richtung, es doch tatsächlich nochmals mit einem Stück Dostojewski him self zu wagen. Mit dem Jüngling bin ich ja vor gut einem Jahr gescheitert. Vielleicht versuche ich es mit etwas, dass ich gut in Erinnerung habe, dem Doppelgänger. Eine Leserunde mit mir macht ja per Definition keinen Sinn, so werde ich einfach unambitioniertes Gedankenspaming betreiben.
Ist wirklich erstaunlich. Gerade, als wir uns unterhalten hatten und die emanzipatorische Frage aufkam, stieß ich auch schon auf das passende Zitat im "Jüngling". Aber die Frauentypen in allen Dostojewski-Werken bestechen durch eine außergewöhnliche Kraft und auch geistige Stärke. Manche von ihnen sind verrückt oder ins Unglück gestürzt, andere aber wiederum stampfen dafür umso kräftiger auf.
"Der Jüngling", dieses Werk besitzt natürlich nicht die universellen Tiefen der anderen Werke. Auch ist dieser Roman durch die Ich-Perspektive sehr chaotisch und ruhelos geschrieben, ruhelos auch im Sinne eines unübersichtlichen Durcheinanders des Erzählten, nicht nur des Geschehens. Hier trifft man auf einen Erzähler, der nicht ganz Herr seiner Lage und Gedanken ist. Wie sich dann aber wieder alles zusammenfindet, Ereignisse Sinn ergeben, das hat Dostojewski ganz gut hinbekommen, demnach wieder die Kurve gekriegt. Spannend ist der Roman auf jeden Fall. Wenn ich das Chaos der Gedanken und Ereignisse so betrachte, wundert mich fast, dass er die Zusammenhänge überhaupt noch zu knüpfen versteht und alles sich wieder ordnet. Beim Lesen denkt man, nicht nur der Leser müsse sich verlieren, sondern auch der Schreibende.
Den "Doppelgänger" kannst du aber getrost noch einmal lesen, er jagt einen ordentlich voran.
Ich werde mir auch "Die Wirtin" noch einmal zu Gemüte führen.
Das Lach-Buch samt Dostojewski sollte Beweis genug sein, dass er auch komisch sein kann. Ist ja witzig, was du alles so findest. Aber du hast recht, Jatman. Meistens ist mit diesem Humor auch ein ironischer Wink verbunden, oder bestimmte lustige Stellen werden schnell durch darauf folgenden Ernst überdeckt.
Zitat von Jatman
Am 5 Mai 1867 in einem Brief an A. Suslowa:
“Da mir das Leben seit dem Tod meines Bruders langweilig und schwer geworden war, machte ich ihr einen Heiratsantrag. Sie war einverstanden und jetzt sind wir verheiratet.”
Stimmt. Dieser Brief wird wieder sehr lebendig, wenn du ihn hier zitierst. Und er stimmt von der Stimmung so überhaupt nicht mit dem Ereignis - "Die Begegnung Annas mit dem großen Schriftsteller" überein, die die Russen so gerne romantischer gestalten, als sie wohl tatsächlich war. Von ihr aus war das schon Schwärmerei. Er dagegen diktierte, freute sich, dass jemand da war und nutzte die Gelegenheit. Die Liebe kam erst viel später. Und das (das hatten wir ja schon), was man so bei ihm Liebe nennen kann, ... ist dann auch wieder eine andere Frage.
Zitat von fedja
Besonders durch die Jahre im Ausland waren Fjodor und Anna stark aufeinander fixiert; das dürfte sich nach der Rückkehr nach Russland fortgesetzt haben, zumal wegen der Spannungen mit den Verwandten Fjodors.
Und natürlich auch durch den Tod des Kindes. So etwas schweißt sicher auch zusammen.
Zitat von fedja
Die Erinnerungen von Ljubow - die muss ich mir dann wohl auch noch besorgen :-)
Ja, die Erinnerungen sind eine gute Ergänzung zum Bild Dostojewski, wenn auch, wie bei den Erinnerungen Annas, stark idealisiert. Auch würde mich interessieren, wie du ihren Charakter empfindest. Ich meine, den der Tochter.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
„sehr chaotisch und ruhelos geschrieben, ruhelos auch im Sinne eines unübersichtlichen Durcheinanders des Erzählten, nicht nur des Geschehens.“
Danke, dass Du noch die Erklärung für m e i n e Probleme beim Lesen des Jüngling kundtust. ZWINKER
„Hier trifft man auf einen Erzähler, der nicht ganz Herr seiner Lage und Gedanken ist.“
Laut Gerigks Sicht ist das in jedem kleinen Teil so von Dostojewski gewollt.
„Das Buch von Ljubow ist geordert“
Wunderbar. Bei dem was das Töchterchen so raushaut, wird es sicherlich hier sehr unterhaltsam.
Von Fedja aus dem Verriss-Thread hierher umgeleitet, da ich die Abteilung Dostojewski der Prophet auch für erörterungswürdig halte:
„Dostojewski ein Prophet? Nicht in dem Sinne, dass er präzise Entwicklungen und Ereignisse voraussagt. Allerdings gibt eine Art "aufgeklärten Prophetenbegriff", wonach man den Begriff der prophetischen Rede weiter faßt.
Umgangssprachlich stülpt man Dostojewski gern das Prophetengewandt über. Wie Fedja es bereits anklingen lässt, passt es nicht, wenn man den Begriff Prophet präzise benutzen möchte. Den `aufgeklärten Prophetenbegriff` begreife ich faktisch als umgangssprachliche Nutzung. Es wird also nur der Ursprung des Wortes (altgriechisch „Fürsprecher”, „Sendbote”, „Voraussager”) unter Auslassung religiöser Aspekte (also der Berufung durch Gotte) genutzt.
So gesehen kann ich zunächst die Verwendung des Wortes Propheten akzeptieren.
Die treffendste Konnotation des Begriffes Prophet ist vermutlich die des Voraussagers. In jedem Fall kann man Dostojewski auch als Senbote oder Fürsprecher verkaufen. Aber eben nach meinem Dafürhalten nicht, wenn er als Prophet tituliert wird.
„Indem Dostojewski z.B. sichtbar macht, dass die Verletzung der Rechte und der Würde des Individuums nicht durch einen "höheren Zweck" gerechtfertigt werden kann, ist er eine überzeugende Stimme gegen die Geburtsfehler und Auswüchse im "real existierenden Sozialismus". „
So stellt sich die zwangsläufige Frage, hat Dostojewski tatsächlich etwas vorausgesagt oder kann man lediglich Geschehenes als Vorausgesagt interpretieren.
Mit dem Wort Voraussage assoziiert man in der Regel eine Ankündigung von etwas von dem man nicht annehmen konnte oder das naheliegen würde, dass es eintreten wird.
Und was hat Dostojewski nun vorausgesehen?! Ich meine nichts. Gesellschaftlich hat er lediglich das konstatiert, was augenscheinlich war, was auch andere gesehen haben. Da war er nicht weiter als die Dekabristen im Jahre 1825. Er konnte es halt benennen und in seinen Werken verwirtschaften (im wahrsten Sinne des Wortes.
Und wie bekannt, kam es ja noch misslicher. Er verlief sich politisch ins zunehmend Irrationale und sein Blick war alles andere als vorausschauend oder gar ungetrübt.
Das was Dostojewski gesellschaftlich zu Recht kritisch sah, und was jetzt angenehme Allgemeinplätze für sein vermeintliches Prophetentum darstellt, kann ich auf der Zeitschiene beliebig in vielen Jahrzehnte-Schritten in die Zukunft oder die Vergangenheit verschieben passt immer.
Vielleicht hat er auch etwas von sich gegeben, das man als weise vorausschauend bezeichnen kann. Mir ist jedoch spontan nichts in Erinnerung (was nichts heißen will). Vielleicht habt Ihr was im Angebot. Ich kann ja nur dazulernen.
„Genauso kann man ihn natürlich auch als Anwalt gegen den ungezügelten Kapitalismus benennen.“
Einem tief nationalistischen Religionsmysthiker und Monarchisten wollte ich das nicht anrechnen. Er hielt nichts vom ungezügelten Kapitalismus, aber wovon er angetan war, war einfach schlimmer, grausamer und menschenverachtender als der aufkeimende Kapitalismus.
„Als Journalist und als Kommentator des politischen Zeitgeschehens würde ich ihn dagegen nicht ansatzweise in Prophetennähe rücken.“
Da schreib ich ewig und dabei ist hier bereits alles festgestellt und wesentlich kompakter auf den Punkt gebracht.
www.dostojewski.eu
:-)
Wir sind uns auch ansonsten ziemlich einig; unter "aufgeklärtem Prophetenbegriff" verstehe ich hier gerade nicht den des allgemeinen Sprachgebrauchs, der in die Zukunft blicken kann, sondern denjenigen, der unabhängig von der Zeitschiene Zusammenhänge erkennt und durchdringt. Da hat für mich der Erzähler Dostojewski mitunter prophetische Qualität; der politische Kommentator D. dagegen nicht.
"tief nationalistischen Religionsmysthiker und Monarchisten"
Man muss D. dabei zugute halten, dass er ein Ideal von russischer Nation, orthodoxer Kirche und Zarentum vor Augen hat.
"wovon er angetan war, war einfach schlimmer, grausamer und menschenverachtender als der aufkeimende Kapitalismus"
Er nahm die Schattenseiten des von ihm verehrten Systems nicht wahr - bzw. vertraute auf Selbstreinigungskräfte innerhalb des "Heiligen Russland".
Ich kann mir allerdings ebenso gut vorstellen, dass D. von diesem System gar nicht so überzeugt war; die Schattenseiten hat er doch gesehen und beschrieben, aber er konnte es sich mit seiner Vergangenheit nicht leisten Systemkritik zu üben und an Grundfesten zu rütteln. Indem er ein Ideal hochhält, führt er indirekt durchaus vor Augen, dass ein Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. So ist es vielleicht erklärbar, dass ihn die Studenten verehrten, obwohl er scheinbar völlig andere politische Standpunkte vertritt als die meisten von ihnen.
„Man muss D. dabei zugute halten, dass er ein Ideal von russischer Nation, orthodoxer Kirche und Zarentum vor Augen hat.“
Da kann ich nicht ganz still halten. Nationalstolz geht durchaus in Ordnung, wenn das aber heißt seine Nation unter Minderwertikeitserklärung ALLER (siehe Puschkin-Rede) anderen Nation zum Nonplusultra zu erklären, dann ist das nationalistisch; und das war die panslawistische Linie einfach. Das gleiche Prinzip gilt für die orthodoxe Kirche. Sie war zu seiner Zeit in weit „schlechterer Verfassung“ als der Katholizismus in Westeuropa. In Westeuropa hat er alles niedergemacht, während er die Schwächen „seiner“ Kirche überhaupt nicht wahrnahm bzw. zum Gegenstand seiner Erörterungen machte. Und was soll es für ein Ideal sein, in dem die Monarchie ausnahmslos absolutistisch daherkommt. Das finde ich reaktionär.
„Er nahm die Schattenseiten des von ihm verehrten Systems nicht wahr - bzw. vertraute auf Selbstreinigungskräfte innerhalb des "Heiligen Russland"
Auf Europa hat er in seinen Winteraufzeichnungen bereits böse gewettert. Und das russische System, hatte nicht nur keine Schatten ;-) es war das Dunkle höchstselbst.
„Ich kann mir allerdings ebenso gut vorstellen, dass D. von diesem System gar nicht so überzeugt war etc. “
Dafür sind mir keine Anhaltspunkte oder auch nur Tendenzen bekannt. Mit Solowjew und Pobedonoszew als besten Freunden auch kaum naheliegend.
Gut passend zu dem Thema, ein Stück Text aus Zweigs genialem Buch:
"Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit teuren Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht einmal mehr Dünger für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen – eitle Laffen, die Deutschen ein niedriges Wurstmachervolk, Engländer – Krämer der Vernünftelei, die Juden – stinkender Hochmut. Der Katholizismus – eine Teufelslehre, eine Verhöhnung Christi, der Protestantismus – ein vernünftlerischer Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig wahren Gottesglaubens; der russischen Kirche. Der Papst – der Satan in Tiara, unsere Städte Babylon, die große Hure der Apokalypse, unsere Wirtschaft, ein eitles Blendwerk, Demokratie, die dünne Brühe weicher Gehirne, die Revolution – ein loses Bubenstück von Narren und Genarrten, Pazifismus – ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen Europas eine verwelkter verblühter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche geschmissen zu werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig große, einzig richtige."
Zweig, Stefan; Drei Meister S. 157
„So ist es vielleicht erklärbar, dass ihn die Studenten verehrten, obwohl er scheinbar völlig andere politische Standpunkte vertritt als die meisten von ihnen.“
Die Begeisterung ist mir bis heute noch nicht erklärlich.
So - schön Dampf abgelassen.
www.dostojewski.eu