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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#286

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 29.07.2011 20:39
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Sehr unterhaltsam Es geht um die Neuübersetzung von Schuld und Sühne. Dort wird sie beschrieben: kühl, sachlich und schlank > und das ist nicht unbedingt Dostojewski. Viel Spaß.




www.dostojewski.eu
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#287

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 30.07.2011 10:57
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Jatman1

Herzlichen Dank für die Erinnerung an die beste Literatursendung aller Zeiten!


Desweiteren möchte mal ganz unbescheiden auf die Selbstgespräche mit Dostojewski hinweisen.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 30.07.2011 10:57 | nach oben springen
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#288

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 01.08.2011 19:45
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Sind aber nur die Zusammenfassungen der Romane (im Moment zumindest noch, das ist ja auch immer eine Sau-Arbeit, das alles da überfliegen und korrigieren und umschreiben und so weiter und so fort und überhaupt...)
Und bald folgt "Die Brüder Karamasow".




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 01.08.2011 19:47 | nach oben springen
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#289

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 12:19
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Eigentlich sollte es nur eine Rezension werden, ist aber scheinbar doch eine zwanzigseitige Abhandlung geworden. (Wer das liest, der muss entweder sehr geduldig sein oder sehr interessiert... ).

Nun dann... hier sind meine Gedanken zu
"Die Brüder Karamasow":


… in Wahrheit ist jeder vor allen für alle schuldig, nur wissen es die Menschen nicht, wenn sie es aber wüssten, so wäre sofort das Paradies auf Erden.


… Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst psychisch umstellen und eine andere Richtung einschlagen.


Hier ringen Gott und Teufel und der Kampfplatz ist – des Menschen Herz…



Dostojewskis letzter Roman ist wohl gleichzeitig sein komplexestes, leidenschaftlichstes und „religiösestes“ Werk, in der Auseinandersetzung mit den wichtigsten Sinnsuchfragen und solchen religiösen Hinterfragungen wie: Gibt es Gott? Soll man glauben? Woran soll man glauben? Was ist der Mensch in seinem Glauben? usw.

Die tiefste Frage, die behandelt wird, und die ausgerechnet von dem geläuterten Dimitrij Karamasow ausgesprochen wird, der angeblich seinen Vater erschlagen haben soll, ist: Kann der sich neu formende Mensch einer modernen Zeit die Menschheit lieben, wenn er nicht mehr an Gott glaubt? Wie wird er tugendhaft ohne Gott?

Obwohl sich auch die eigentliche Geschichte der Karamasows spannend liest, bleibt das Werk wohl doch eher durch seine intensive Philosophie im Geist haften, durch seine Tiefe, Gewalt und Kraft, als ein Werk, das sich in verschiedenen Standpunkten auf seine Charaktere zergliedert und den Leser auffordert, sich mit den Gedanken vertraut zu machen, all das nicht einfach durch die Augen strömen zu lassen, sondern als einzelne Hürden dem eigenen Verstand und Herzen darzulegen, um gegebenenfalls eine eigene Antwort zu finden oder dieser doch zumindest nahe zu kommen.

In diesem Riesenwerk tauchen viele Figuren aus anderen dostojewski'schen Romanen auf, nur sind sie hier nun tiefer und reiner ins Bild gesetzt, ergänzen einander und vollführen durch ihre Vereinigung in eben diesem Werk eine wunderbare Wiederbegegnung menschlicher Abgründe und Werte.
Aljoscha könnte man als eine Art Fürst Myschkin betrachten, Iwan als eine Kombination aus Raskolnikow und Stawrogin. Dimitrij hebt sich als ungehobelter, aber tief im Inneren doch feiner Mensch neu hervor, und doch glaubt man trotzdem gerade diesen Charakter gut zu kennen.

Gerade bei diesem Werk wird deutlich, wie vielschichtig Dostojewskis Kosmos ist, der keinerlei Stimme oder Position einnimmt, der seine Figuren gleichberechtigt nebeneinander agieren lässt, der mit einer Art Gegenüberstellung seiner Figuren hantiert, die einander die jeweils eigene Ansicht mit Blick auf die Welt entgegenhalten. So stehen dem „Alles ist erlaubt!“ eines Iwans z. B. die Worte des Staretz Sossima gegenüber, der davon spricht, dass wir uns für alle und alles verantwortlich fühlen müssen, damit wir erkennen, dass wir für alle und alles schuldig sind.

Der typisch dostojewski’sche Gegensatz, der sich in fast all seinen Werken findet, ist der des gläubigen Menschen (der nicht nur an Gott, sondern auch an Unsterblichkeit und an eine bessere Welt mit höheren Werten glaubt) gegenüber des ungläubig fortschrittlichen Menschen, der die Gegenwart nutzt, um die Gesellschaft nach Marx-ähnlichen Mustern zu verändern und neu aufzubauen und dafür verlangt, die Idee über das Wohl der Menschen zu stellen.
Im Gefängnis spinnt sich eine Unterhaltung zwischen Dimitrij und Rakitin, einem angehenden und nicht an Gott glaubenden Seminaristen, der eine Art Karikatur des Nihilisten Iwans ist, zusammen, wo dieser bei einer solchen Frage, ob eine Welt ohne Gott möglich ist, zu Dimitrij sagt

„Du, bemühe dich lieber um die Vermehrung der bürgerlichen Rechte der Menschen oder meinetwegen darum, dass der Preis des Rindfleisches nicht steige; damit wirst du der Menschheit einfacher und unmittelbarer Liebe beweisen als mit Philosophieren.“

Darauf entgegnet ihm Dimitrij:

„Du aber, wirst ohne Gott selbst noch den Preis des Rindfleisches erhöhen, wenn das nur in deiner Macht steht, wirst womöglich einen Rubel auf jede Kopeke aufschlagen.“

Darin enthalten ist die Überzeugung des einen, dass das Wohl der Menschen für eine bessere Zukunft geopfert werden dürfe, was der Schriftsteller Dostojewski in seinen fatalen Folgen weise vorausgefühlt hat und was eine Illusion bleibt, weil ohne Werte und mit menschlichen Opfern nichts Gutes erbaut werden kann und selbst das Moderne, das Neue nur mit verändertem Gesicht in der genau gleichen und dreckigen Gosse landet, dort mit den Schatten kämpft und sich selbst der Nächste ist.
Dostojewski war der festen Überzeugung, dass der Mensch nie Mittel zum Zweck werden dürfte, nie für eine Idee geopfert gehört. Sein Wunsch war, dass der Mensch sich selbst verändere, um eine bessere Welt zu kreieren. Bei ihm ist die Verneinung im Endeffekt eine Vernichtung. der Mensch wird sich selbst zerstören in der Erkenntnis, dieser Welt und seinen Zweifeln nicht gewachsen zu sein.



Das Motto, das Dostojewski für seinen Roman „Die Brüder Karamasow“ gewählt hat, ist aus dem Johannes-Evangelium (XII, 24):

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“

Tod und Zerfall haben nichts Endgültiges und Negatives an sich. Daraus erwächst etwas Größeres und noch nicht Erschautes,… ein neues, besseres Leben. Und darum kann für Dostojewski auch in jedem Verbrecher und Schurken eine gute Seele wachsen, die sich selbst hinterfragt und die ihre eigenen Fehler erkennt. Darum soll der Mensch in der Welt gut handeln, weil diese nicht die einzige ist. Die Geschichte soll nicht mit Zweifeln und Sorgen angefüllt werden, über denen vergessen wird, sie zu lenken. Für Dostojewski ist die menschliche Seele breit angelegt und keiner hat das Recht, sie zu verengen. Wer das Leben liebt, der wird auch seinen Sinn begreifen.


1.
Als ich die Brüder Karamasow das erste Mal gelesen habe und mich von der Tiefsinnigkeit des Werkes beeindrucken ließ, tendierte meine Sympathie vor allen Dingen zu Iwan, der häufig schweigt wie eine Sphinx, damit rätselhaft bleibt und sich andererseits in seinem ganzen euklidischen Verstand sehr deutlich offenbart. Auch mochte ich Aljoscha, dessen Gutgläubigkeit und Liebe zur Menschheit mich bewegten, wenn beide Figuren eigentlich füreinander große Gegensätze darstellen, aber vielleicht mochte ich sie auch gerade darum, weil sie beide Seiten repräsentieren, die den Menschen ausmachen.
Beim erneuten Lesen, und da wunderte ich mich selbst, hat es mir die Figur Dimitrij angetan, dessen rohes Wesen sich dann selbst erkennt und läutert, der ungestüm und wild und doch auch leidenschaftlich durch die Welt hastet, während Iwan mir an einigen Stellen in seiner ganzen Verachtung aufging, die sich notgedrungen aus seinen Selbstzweifeln entwickeln musste. Mir fiel auf, dass er, der Denker mit dem großen Herzen, häufig sehr gemein zu anderen Menschen ist, obwohl er für die Welt Gerechtigkeit verlangt.
Dimitrij wirkte auf mich vielleicht auch darum tröstlich, weil er die Strafe, die ihm aufgebrummt wird, nicht annimmt, wenn er auch behauptet, sein Vorhaben sei ein ähnliches Gefängnis wie das, das für ihn durch Schuldspruch verordnet wurde. Er ist Opfer eines Justizirrtums, steht für Dostojewskis Skepsis an dem gerade in Russland eingeführten Geschworenengericht, bei dem die Frage aufkommt, wer hier über Leben und Tod, über einen Menschen oder Verbrecher entscheiden kann, wer damit also Gott und dem Sünder selbst die eigene Bestrafung aus der Hand nimmt und inwieweit so ein Urteilsspruch Gültigkeit hat, was er bei dem Verbrecher bewirkt und auch zerstört.
Im wichtigen Gespräch zwischen Iwan und Aljoscha fragt Iwan gleichfalls, wer das Recht hätte, einem anderen zu vergeben, wenn an seinem Kind Unrecht getan wurde. Aljoscha führt Gott an.


Hier zeigt sich, wie vielschichtig Dostojewskis Menschen sind. Sie tragen in sich nicht nur eine einzige Ansicht und Richtung zu denken, sondern bergen jene zwei Abgründe (den Abgrund von oben und den Abgrund von unten), also genau jene Dualität, die den Menschen, ist er realistisch getroffen, ausmachen.
Das ist das, was Dostojewskis Roman gleichfalls tief und komplex macht, dass seine Figuren nicht so einfach zu durchschauen sind, keinem Muster entsprechen, dass sie in ihren Handlungen überraschen und gleichzeitig auch sich selbst beständig widerlegen.
Man blicke hier gerade auf die Frauenfiguren oder auf den geläuterten Dimitrij.
Andere sind die Zerrspiegel der Hauptfiguren, wie z. B. Smerdjakow der Zerrspiegel von Iwan ist, der mit seinem Wesen ausdrückt, was eine aus dem Gerechtigkeitssinn hervorgebrachten Idee bei ungebildeten, wenn auch nicht dummen Menschen hervorrufen kann. Jene Ideen, die theoretisch betrachtet in einer moralischen Auffassungsgabe z. B. Sinn ergeben, die aber, auf die Masse verbreitet, die nicht selbst denkt und sich nur um den eigenen Schatten kümmert, verheerende Auswirkungen hat.


Dostojewskis „Religion“ hat nichts mit dem Katholizismus zu tun, dessen indoktriniertes System er ablehnt und gerade im „Großinquisitor“ karikiert und kritisiert. Auch kann sie sich nicht mit der Tolstois vergleichen lassen. Seine Religion lässt sich „vom Licht des Osten“ leiten, spricht, in der Stimme des Staretz Sossima, von Liebe, Brüderlichkeit und Vergebung ohne Vorschrift und Zwang, davon sich selbst ändern zu müssen, um die Welt zu verändern, dabei aber nicht als Rückbesinnung auf den Menschen selbst, sondern als eine Art tiefen Glauben an den Weltenzusammenhang. Sossima spricht von der Abschaffung aller Bedürfnisse, um frei sein zu können und als „neuer Mensch“ aufzuerstehen, noch in diesem Leben, ein überzeugendes Plädoyer gegen die Individualisierung und damit Vereinsamung der Gesellschaft.
Wenn Dostojewski von Religion spricht, dann meint er den nichtrationalen Raum, der für ihn nur im Mystischen erfasst werden kann, der über den menschlich kleinen Verstand hinausreicht. Um sich aber mit diesen mystischen Barrieren zu befassen, die wider die Rationalität stehen, dafür dient Dostojewski die Religion, der Glaube der Menschen, eben… Gott. In diesem ist alles miteinander vereint und verbunden. Durch ihn dringen andere Welten in den Menschen, durch die er durch die eigene geleitet wird und deren Stimme er, je nach Typ und Erkenntnissen, mehr oder weniger verlieren kann.

Zitat von Dostojewski

Vieles auf Erden ist uns verborgen, als Eratz dafür aber ward uns ein geheimnisvolles heimliches Gefühl zuteil von unserer pulsierenden Verbindung mit einer anderen Welt, einer erhabenen und höheren Welt, und auch die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle sind nicht hier, sondern in anderen Welten.
Deshalb sagen die Philosophen, dass das Wesen der Dinge hier auf Erden nicht zu erfassen sei. Gott nahm Samenkörner aus anderen Welten und säte sie auf diese Erde und ließ seinen Garten erwachsen, und es ging alles auf, was aufgehen konnte, aber das Aufgegangene lebt und bleibt pulsierend lebendig nur durch das Gefühl seiner Berührung mit geheimnisvollen anderen Welten; wenn dieses Gefühl in dir schwach wird oder abstirbt, dann stirbt auch das, was in dir aufgewachsen war. Dann wirst du auch dem Leben gegenüber gleichgültig und beginnst es sogar zu hassen.



Alles entsteht aus dem GEIST und geht wieder in ihn ein. Nichts anderes beinhalten die Worte des hier zitierten Staretz Sossima. Und wenn du diese Verbindung verlierst oder gar selbst zerstörst, wirst du das Leben anders und verzerrt wahrnehmen.

Eine wichtige Vertiefung dieses Themas ist die Geschichte des „Großinquisitors“, an der sich so viele Literaten in einer Deutung versucht haben.
Iwan Karamasow, der zunächst als Nihilist und Ungläubiger auftritt, erstaunt durch seine Haltung, wenn er behauptet, er werde Gott nicht in Frage stellen, womit er der religiösen Diskussion vorerst allen Wind aus den Segeln nimmt, denn er hält sich mit seinem menschlich irdischen Verstand nicht für berechtigt, diese Frage beantworten zu wollen, gerade darum, weil sie nicht zu beantworten ist. Er sagt also, er glaube durchaus an Gott, an eine göttliche Harmonie, jedoch die Welt, die Gott geschaffen haben soll, die würde er ablehnen. Um das zu untermalen, berichtet er von einer Welt, in der Kinder gequält und getötet werden, Menschen leiden, umkommen und schlimmer als Bestien agieren.

Man spricht von der „tierischen“ Grausamkeit des Menschen, aber das ist sehr ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgeklügelt, so kunstvoll grausam.

Um seine Ansichten zu untermalen, warum er diese Welt nicht akzeptiert, wie sie ist, zählt er, bevor er zum eigentlichen Poem kommt, verschiedene Vorfälle auf, in denen Kinder durch menschliche Anweisung gequält, misshandelt und getötet wurden, eine Realität, die grausam aus diesen Seiten der „Brüder Karamasow“ hervorsticht und die Dostojewski dennoch wirklichen Zeitungsartikeln entnommen und auch in seinem „Tagebuch eines Schriftsteller“ näher betrachtet hat.
Iwan erklärt auch, dass er die Beispiele von gemarterten Kindern anführt (übrigens hat sich z. B. Camus diesen dostojewski’schen Gedanken regelrecht einverleibt), um nur einen winzigen Bereich einer ungerechten und verkommenen Welt darzustellen, Ereignisse also, die er nicht versteht, die niemand versteht, warum er die Welt auch nicht akzeptiert, in der so viel Leid geschieht, das weit über die Beispiele und Kinder hinausreicht. Er spricht von einer zu blutig erkauften Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie.

Aber gerade die Kinder, die leiden, sind es, die Iwan in seiner Theorie als Beweis anführt und im Sinn der Gerechtigkeit hervorhebt. Warum leiden auch diese Unschuldigen in einer Welt, die doch angeblich von einem guten Gott erschaffen wurde, für eine spätere Harmonie des Ganzen? Auch fragt Iwan Aljoscha (wie einst Dostojewski selbst die Menschen in seiner „Puschkinrede“), ob er, würde er den „ganzen Bau der Gesetze für das Menschengeschlecht“ errichten müssen, mit „dem Ziel im Auge, zum Schluss alle Menschen glücklich zu machen“ unter der Bedingung, dafür ein einziges winziges Geschöpf zu quälen, darin einwilligen, der „Architekt dieses Baus“ zu sein oder ob er die Vorstellung zulassen könnte, dass die Menschen, für die er die Welt erbaut, ihrerseits einwilligen, „ihr Glück um den Preis des nicht gerechtfertigten Blutes so eines kleinen Märtyrers zu empfangen“ und wie sie dann wohl noch glücklich sein könnten und was das für eine Harmonie wäre, die erst durch Leiden erreicht werden kann.

Zitat von Dostojewski
… wenn alle leiden müssen, um damit die ewigen Harmonie zu erkaufen, so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen und warum auch sie durch Leiden die Harmonie erkaufen sollen.

(…) Darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, meine Schutzwehr dagegen zu errichten, und darum danke ich im Voraus für jede höhere Harmonie. Ist sie doch nicht einmal ein einziges Tränlein jenes gequälten Kindes wert, das sich mit dem Fäustchen an die kleine Brust schlug und zu seinem „lieben Gottchen“ betete.

(…) Und was ist das für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, dass noch gelitten werde. Und wenn die Leiden der Kinder zu jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, unbedingt hinzukommen müssen, so behaupte ich im voraus, dass die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist.

(...) Ich will keine Harmonie. Aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht.



Bezeichnet für jenes Poem „Der Großinquisitor“ ist vielleicht, dass Iwan es nie niedergeschrieben hat, sondern das es seit langem in seinem Kopf festsitzt und nun, für den Novizen Alexei, daraus von ihm zutage gefördert wird. Es ist also die tiefste Überzeugung Iwans, die seine ganze Persönlichkeit ausmacht, die mit Zweifeln und Verachtung ringt, um den Sinn des Lebens inmitten all dieser Quälereien ausmachen zu können, der sich durch all das Leid gequält hat und nicht mehr die Kraft aufbringt, nach vorne zu blicken, ob dort ein anderes Licht leuchten mag.

Iwan berichtet in „Der Großinquisitor“ seine Version von der Wiederkehr Christi im spanischen Sevilla im sechzehnten Jahrhundert. Darin ist das Thema behandelt, was wäre, wenn Christus noch einmal die Erde betreten würde, der dafür kämpfte, dass der Mensch nicht an Wunder glauben, sondern aus sich selbst heraus nach Gottes Stimme rufen und diese vernehmen soll, statt sich auf materielle Güter zu verlassen und einzig aufgrund seiner Bedürfnisse zu leben. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“, sprach einst Christus, während der Großinquisitor dem nun wiederauferstandenen, jedoch schweigenden Christus entgegenhält: „Sättige sie zuerst, dann kannst du von ihnen Tugenden verlangen.“

In der Karamasow’schen Version würde Christus, selbst wenn die Menschen ihn erkennen, denen zum Opfer fallen, die in seinem Namen lügen und mittels Religion den Menschen unterwerfen, ihn zum gehorsamen Sklaven machen. Sie würden ihn auf das Schafott tragen und verbrennen, wenn sich nicht der Großinquisitor so sicher wäre, die Menschen längst in der Hand zu haben, dass das, was Christus in ihnen sähen wollte, nie hervorbrechen wird. Denn das, was Christus vom Menschen erwartet, so der Großinquisitor in seiner Argumentation, sei die Stärke weniger Auserwählter, während die meisten Menschen eher schwach sind. Daher gibt die Kirche den Menschen den in den Augen des Katholizismus „wahren Glauben“, damit das Recht zu sündigen, um Buße zu tun und Absolution zu erhalten. Der Mensch ist nicht nur deren Sklave, sondern fürchtet sich vor allen Dingen vor der Freiheit, denn die meisten quält diese Freiheit und sie suchen nach Führung, die die Kirche ihnen bereitwillig und zu ihren Bedingungen der Lüge und Unterwerfung gewährt, zu nicht all zu hohen Ansprüchen, wie es Christus von ihnen verlangte.
Dieses hier behandelte „Wunder“, das Christus ablehnte (z. B. sich in den Abgrund zu stürzen, um den Menschen zu beweisen, dass Gott ihn auffangen wird), der Großinquisitor jedoch als guten Schachzug ansieht, hätte Christus so gehandelt, taucht häufiger im gesamten Werk der Karamasows auf. Zum Beispiel, als der Staretz Sossima stirbt und die Menschen etwas „Unglaubliches“ erwarten. Stattdessen zerfällt der Leichnam schneller und verbreitet einen unangenehmen Gestank. Hier gibt es kein Wunder und die Gläubigkeit der Mönche und auch die von Aljoscha wird auf eine harte Probe gestellt. (Selbst im „heiligen Bereich“ des Klosters verwirklicht sich Iwans Poem vom Großinquisitor.) Aljoscha geht daraus tatsächlich erschüttert hervor, gewinnt aber durch die Erschütterung einen neuen und stärkeren Glauben.

Der Großinquisitor glaubt in Iwans Poem, er handle aufopfernd, das heißt, in guter und menschlicher Absicht, den schwachen Menschen vor der bedrohlichen Freiheit zu bewahren und ihm stattdessen das fertige Gerüst des Glaubens zu schenken. Er spricht davon, alle zu befreien, natürlich mit der Freiheit, die aus gläubigen und gottesfürchtigen Händen geformt wurde, während Christus nur die wenigen Auserwählten retten konnte, die bereit waren, sich selbst zu retten und an Gott zu glauben, in das Sein und in Gott zu vertrauen.
Als der Großinquisitor Christus bewiesen zu haben scheint, dass das Handeln der Kirche besser als der Ursprung jedes Glaubens wäre, küsst ihn Christus, worauf er ihn nicht verbrennen lässt, sondern ihm sagt, er solle verschwinden und nie wiederkommen.

Hier wird also deutlich der Katholizismus, die römische Kirche, kritisch beurteilt, der sich das Göttliche greift und daraus eine irdisch vertretbare Angelegenheit macht, während Jesus vom Menschen zu viel verlangt haben soll, und zwar, dass sie aus freiem Willen glauben. Der Inquisitor spricht Christus auch nicht die durch ihn an den Menschen erteilte Wahrheit ab, sondern geht nur davon aus, dass der Mensch diese Wahrheit nicht fähig ist, anzunehmen oder ihr zu folgen.

Rosanow verweist in Bezug auf das Wunder in „Dostojewskis Legende vom Großinquisitor“ ganz richtig darauf, dass Christus im Gegensatz zu Iwans (Dostojewskis) Ausführung, eigentlich doch schrecklich viele Wunder vollbracht hat, um die Menschen zu überzeugen. Er hat mit 5 Broten 5000 Menschen genährt, Wasser in Wein verwandelt, Stürme besänftigt, Lahme geheilt … Dazu sagte Christus: „Wenn solche Wunder geschehen wären, hätten die Menschen schon an mich geglaubt, doch ihr - glaubt nicht.“
Das ändert aber nichts an der Sache an sich.

Wenn Iwan sagt, er glaube, dass der Mensch sich den Teufel nach seinem eigenen Abbild erschaffen hat, so hält ihm Alexei entgegen, dass der Mensch sich, nach dieser Theorie, auch Gott erdacht hat, nach gleichem Muster. Der Mensch, zweigeteilt, der das Gute und das Böse zu unterscheiden gelernt hat, wo Gott und Teufel miteinander ringen und der Schauplatz ist das Menschenherz, trägt die Idee beider Schöpfungen in sich, und beide sind Abbild seiner selbst.


An einem der ersten gemeinsamen Abende fragt der betrunkene Vater Iwan, ob es einen Gott gäbe. Dieser verneint. Iwan gegenüber sitzt Aljoscha, der die gleiche Frage gestellt bekommt. Er sagt, es gibt einen Gott. Für Iwan aber ist der Mensch nur darum gläubig und handelt moralisch, weil er an die Unsterblichkeit glaubt. Als der Vater nun fragt, ob es diese für ihn gibt, so verneint Iwan erneut, während Aljoscha sie bestätigt.
Bereits der Staretz Sossima sah in Iwans Augen den Kampf mit sich selbst und sagte ihm, wenn die Frage nicht im positiven Sinne gelöst werden kann, so könne sie auch nicht im negativen gelöst werden. Er wusste, dass diese Unsterblichkeit für Iwan nicht mehr existiert und dass darum für ihn „alles erlaubt“ ist.

Dimitrij, der Sohn aus erster Ehe, Iwan und Alexei, die Söhne aus zweiter Ehe, teilen alle ein gemeinsames Schicksal: sie sind von einem ausschweifend lebenden, schmarotzenden Vater und werden gleich nach ihrer Geburt von ihm vergessen. Dimitrij wird sogar von zwei oder mehreren Menschen als Kind verlassen, so dass er den Charakter eines Waisenkindes annimmt, der oberflächlich und ohne Ehrgeiz aufwächst, Soldat wird und bald seinen Vater auf sein ihm zustehendes mütterliches Erbe anspricht, das dieser ihm verweigert. Die beiden anderen Söhne sind zwar beide von der gleichen Mutter, unterscheiden sich allerdings stark in ihren Charakteren. Während Iwan früh Talent und Intelligenz zeigt, verschiedene Artikel schreibt und Aufsehen erregt, fühlt sich Aljoscha als eine sanfte Natur zum Glauben hingezogen. Beide werden gut erzogen, geraten unter die Obhut eines Menschen, der sich um sie kümmert, während Dimitrij von Hand zu Hand gereicht wird. Dies ist sehr prägend für alle Charaktere, die so grundverschieden sind.

Dostojewski erwähnt nur Alexei in seinem Vorwort, spricht von ihm als Sonderling, der „das Mark des Ganzen in sich trägt, während sich die übrigen Menschen seiner Epoche alle aus einem unbekannten Grunde, gleichsam durch einen irgendwoher herüberwehenden Wind, zeitweilig vom Mark losgerissen haben“.
Dieser ist also sein eigentlicher Held, während Iwan Karamasow als Zweifler gleichberechtigt neben dem „guten Menschen“ steht, wenn er auch ein ganz anderes, nämlich stolzes Wesen in sich trägt, das dazu noch die Welt anzweifelt. Auch Dimitrij ist stolz, jedoch in ganz anderem Sinne. Sein Stolz beschränkt sich darauf, wie er auf die anderen Menschen wirkt und wie er unter ihnen als einzigartig auffallen kann. Dazu dienen ihm die verschiedensten Mittel, die sich zumeist durch Pöbelei oder Geldverschwendung ausdrücken, während er im Grunde ein liebenswerter Mensch ist. Sein Stolz zerbricht an der Weiblichkeit und am Mammon. Die Ehre, die er verteidigt – „Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb“ -, basiert auf materiellen Schulden, die die moralischen Schulden überdecken sollen. Mit Katharina treibt er ein Spiel, in Gruschenka verliebt er sich tatsächlich und reift durch sie und ihre später erwiderte Liebe. Erst hier kehrt sich der gute Kern seines Wesens um und gegen den äußerlichen Stolz, der ihn zu Lärm und Aufschneiderei verführte.

Aljoscha ist kein Mystiker oder religiöser Fanatiker. Vielmehr ist er ein jugendlicher Menschenfreund, der ins Kloster geht, weil das Klosterleben und der Staretz Sossima einen tiefen Eindruck auf ihn machen. Der Weg ins Kloster erscheint ihm „als das Ideal eines Auswegs für seine aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe strebenden Seele“.

Auch zieht es ihn, ähnlich wie Fürst Myschkin in „Der Idiot“ zu den Kindern, für die er sich verantwortlich fühlt. Diese treten als eine Art Nebengeschichte im Handlungsstrang auf, denn sie sind die Kinder, die die Schuld ihrer Väter übernehmen, von der auch Iwan in „Der Großinquisitor“ spricht, während er sie als unschuldig bezeichnet. Später (und in meinen Gedanken dann unten, bei der Rede des Verteidigers…) wird noch einmal intensiver auf diese Schuld eingegangen.

Für die Suche nach Wahrheit und Unsterblichkeit gibt Aljoscha sein Studium auf und reist zurück zu seinem Vater, um dann Novize zu werden. Er handelt hier gegen die Regel und Vernunft junger Menschen, die das Opfer nicht bringen wollen, für die Suche nach Wahrheit Jahre hinzugeben, die ihnen beim Erfolg und Weiterkommen hilfreich sind. Aljoscha denkt anders und handelt nach seinem Gefühl.

Es steht geschrieben: „Verteile dein Gut und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.“ Und so sagte sich denn auch Aljoscha: „Ich kann doch nicht an Stelle meines ganzen Gutes nur zwei Rubel geben, und anstatt des „folge mir nach“ nur zu Frühmesse gehen!“

Auch wenn Aljoscha stark dem Charakter Myschkins gleicht (wobei Aljoscha gegen diesen dann doch eher blaß erscheint, denn an den wunderschönen „Idioten“ reicht keine Figur ähnlichen Charakters heran), ist er keine Wiederholung dessen, weshalb auch die Reaktionen auf ihn völlig anders sind. Aljoscha liebt die Menschen und sie lieben ihn gleichfalls:

Zitat von Dostojewski
… er glaubte an sie anscheinend sein ganzes Leben lang, und trotzdem hielt ihn niemand jemals für beschränkt oder naiv.

(...) Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot und ihm immer zuflüsterte, dass er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch um nichts in der Welt verurteilen werde.




(Ein Nebengedanke dazu: Wenn häufig Aggressionen nur aufgrund von Unsicherheit aufkommen, insbesondere gegenüber Menschen, die man nicht kennt oder nach eigen verfälschter Ansicht zu kennen glaubt, weil man im Akt der Unsicherheit voraussetzt, er könnte falsch sein, hinterlistig oder ironisch, so kann ein Mensch, der offensichtlich zu durchschauen und von heiterem, ruhendem Gemüt ist, bei dem also zu erkennen ist, dass er nichts Mürrisches oder Gemeines in sich trägt, tatsächlich Liebe auslösen, insofern die Menschen gewillt sind, ganz und gar auf ihn zu blicken und nicht so flüchtig, wie sie es zumeist tun.)

Im Gegensatz zu Myschkin, ist Aljoschas Herz ein Kampfplatz von Gut und Böse. Er kann durchaus Zweifel am Sein haben, kennt die Leidenschaften und ist auch zu Zorn fähig. Er geht darum ins Kloster und beugt sich diesem Leben zunächst, weil er die andere Seite in sich fürchtet, den typisch karamasow'schen (also ausschweifenden) Zug. Er weiß, dass etwas in ihm lauert, auch scheint er allgemein Leidenschaft in sich zu tragen, wenn er Partei für Dimitrij, Iwan oder andere ergreift, was Myschkin überhaupt nicht konnte, da er immer das Gute im Menschen voraussetzte und unabänderlich daran glaubte. Myschkin ist viel eher der „Buddhist“ als Aljoscha, da dieser keinerlei Leidenschaft in sich trägt, das Leben und die Menschen nur beobachtet, ihnen in tiefem Mitgefühl begegnet. Aljoscha, selbst von sehr liebenswertem und ruhigem, wenn auch nicht krankem Wesen (denn Myschkin leidet ja an der Fallsucht), ist noch unfertig, muss sich noch selbst finden. Myschkin steht bereits auf sicheren Beinen. Er weiß, wer er ist und wie er die Welt sieht. Er ist passiv, sucht nichts und will nichts erreichen.
Aljoscha wirkt auf den Leser häufig wie ein Magnet oder Spiegel, in dem der in und auf ihn blickende Mensch sich selbst erkennen möchte und beginnt, sein Sein zu hinterfragen. Dimitrij entbrennt in großer, brüderlicher Liebe zu ihm, Iwan offenbart sich ihm, selbst der trunksüchtige Vater bricht in Tränen aus und will ihn küssen. Die weiblichen Figuren bestehen auf seinen Besuch, um sich dann völlig anders zu zeigen, als vorgesehen. Hier bricht die Eitelkeit entzwei und darunter hervor, durch Aljoschas gutes Wesen ausgelöst, stürmt das wahre Ich hinaus, zeigt sich von der nackten, manchmal auch hässlichen Seite.

Es gibt den Verdacht in der literarischen Forschung, dass der Roman nicht vollendet wäre. Das könnte natürlich erklären, warum die eigentliche Hauptfigur, die Dostojewski vorgesehen hat, nicht klar auszumachen ist, denn neben Aljoscha tritt auch Iwan in seinen Überzeugungen klar und deutlich in den Vordergrund. Dostojewski hat die Kapitel so geschrieben, dass sie veröffentlicht werden konnten, das heißt, sie stehen für sich und abgerundet. Das Ende scheint tatsächlich ein Hinweis darauf zu sein, wenn es auch, gerade in der heutigen Deutung, hervorragend das Werk vollendet.
Aljoscha, der sich selbst finden muss, dieser Spiegel, der aber auch erkennen muss, wie er in der Welt wirken kann, hätte, z. B. laut Rosanow, noch zur vollen Größe gefunden. Aber ich finde, Aljoscha, als die Ahnung all dessen, was kommen mag, als die unfertige Persönlichkeit, die trotzdem auf den Menschen eine derartige Wirkung hat, ist bereits vollendet, dadurch sehr lebendig und tritt in meinen Augen auch genau so auf, wie es nicht besser hätte sein können.
Sollte Dostojewski tatsächlich noch weitere Teile geplant haben, so tut es dem Roman keinerlei Abbruch, ganz im Gegenteil. Das Ende richtet sich an den Leser und die Menschen und fordert Liebe für Mensch und Leben, mahnt daran, dass ein Augenblick als schöne Erinnerung Momente trauriger oder schlimmer Umstände klären und aufheitern kann. Die Erinnerung hält vielleicht von Schlimmerem ab, dass ein Mensch sich in seinem Zorn verliert, verbittert oder die Welt aufgrund tragischer Erfahrungen komplett verflucht. Zu sehen: so war ich einst und da war ich glücklich – genügt, einem Menschen zu zeigen, dass es auch andere Augenblicke gibt, das Leben nicht nur seine hässlichen, sondern in so vielen Dingen auch seine schönen Seiten hat.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.08.2011 12:48 | nach oben springen
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#290

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 12:27
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Die ewige Dualität der Figuren, des Seins, des Menschen selbst, die auch Dostojewski hervorragend kannte, tritt auch durch Kapitel wie Pro und Contra hervor oder kommt in der Rede des Staatsanwalts gegen den Verteidiger zu Geltung, die beide einen Menschen in ein Licht rücken, das mit den eigentlichen Tatsachen wenig zu tun hat, die aber durch ihre genaue Schilderung durchaus zutreffen könnten.
Die Bejahung und Verneinung des Lebens, die menschlichen und doppelten Abgründe und die Erkenntnisse bishin zur Erleuchtung sind alle in den zwei Seiten der Medaille enthalten, die Dostojewski dem Leser vor die Nase hält und vor seinen Augen zum Drehen bringt, dass nichts mehr nur einseitig erscheint, auch nicht zweiseitig, sondern als verschwommenes Ganzes unendlicher Möglichkeiten.
Sein von ihm angebeteter Staretz Sossima soll, laut Dostojewski, eine positive heilige Figur sein. Diese Betonung in einem seiner Briefe an Maikow als doppelte Unterstreichung des Wortes „positiv“ spricht Bände, so scheint Dostojewski Zweifel an den Repräsentanten Gottes gehabt zu haben.

Aus seiner Biographie weiß man, dass er 1878 im berühmten Kloster „Optina Pustyn“ gewesen ist, wo „Vater Ambrosius“ als Staretz über Tausende von Leuten wachte, was Dostojewski sehr beeindruckt und aus dem er wohl manch wertvollen Zug für seine positive Figur gewonnen hat. Auch konnte nicht die Hauptfigur (hier also Aljoscha) jene positive Gestalt werden, warum sich Dostojewski auf Sossima besinnt, den er aber nur als führende Hand für Aljoscha kreiert, bis dieser stirbt.

Den Staretz Sossima, oder allgemein die Aufgabe eines Staretz, zu dem Menschen aus dem ganzen Lande pilgern, beschreibt Dostojewski wie folgt:

Zitat von Dostojewski
Der Staretz ist ein Mönch, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich vom eigenen Willen los und übergibt ihn dem Staretz zu unbedingtem Gehorsam bei vollständiger Selbstverleugnung. Diese Prüfung, diese furchtbare Lebensüberwindung nimmt der sich dem Staretz Ergebene freiwillig auf sich: in der Hoffnung, nach langer Prüfung sich selbst überwinden zu können, sich seiner selbst dermaßen zu bemächtigen, dass er endlich durch lebenslänglichen Gehorsam die volle Freiheit erlange – das heißt, um sich von sich selbst zu befreien, auf dass er dem Los derer entgehe, die das ganze Leben verleben und doch ewig ihr eigener Knecht bleiben.



Wie im Buddhismus, soll der Mensch sich also einen Meister suchen und sein Ich überwinden, der Illusion „Welt“ entsagen und die volle Freiheit erlangen (jedoch bereits im Hier und Jetzt).
Auch die Einrichtung des Startzentum wurde im Osten und in der dort angewendeten Praxis geboren. Der Staretz verfügt über eine sehr große Macht über den Mönch, der ihm Gehorsam versprochen hat, warum das Startzentum in vielen Klöstern auch Feindseligkeit ausgelöst hat. Vom Volk wurden diese Menschen geachtet und verehrt. So ist das Startzentum ein zweischneidiges Schwert, dient der sittlichen Auferstehung des Menschen „von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung“, kann aber auch, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu „satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht zur Freiheit“ führen.


2.
Alle drei Söhne lernen sich nun kennen, als sie in das Haus ihres Vaters zurückkehren. Der Streit um das Geld, das den Söhnen rechtsmäßig zusteht, sät sofort Unstimmigkeiten, die ausgerechnet beim Staretz Sosima geklärt werden sollen. Sosima lächelt Aljoscha an und sagt: „Wer hat mich berufen, ihr Schiedsrichter zu sein?“
Beim Treffen mit dem herrlichen Sosima, der krank und schwach ist, sich aber trotzdem bemüht, den Menschen zu helfen und sie zu segnen, gelangt eine andere Geschichte ans Licht.
Dimitrij ist mit einer Adligen verlobt, der schönen Katharina Iwanowna, hat sich aber in Gruschenka verliebt, die einst die Mätresse eines Obersts war und ein (in den Augen der Leute) verruchtes Leben führt.
Der alte Vater Karamasow macht ihr gleichsam den Hof, während Iwan Karamasow Dimitrij die Braut ausspannen will. Dies ist der eigentliche Konflikt, der in der Familie herrscht, und Aljoscha erkennt dies alles mit Schrecken.
Auch findet bei dem Treffen im Kloster eine außergewöhnliche Situation statt, dass der Staretz sich ausgerechnet vor Dimitrij bis zum Boden verbeugt. Man wittert hier die Vorhersehung eines Verbrechens.

Ein vierter Charakter zeigt sich in dem Diener Smerdjakow, der wahrscheinlich ein uneheliches Kind des alten Karamasows ist, wobei die Mutter die „Stinkende“ genannt wird. Sie ist geistig krank und zurückgeblieben und wird darum von allen als heiliges Geschöpf betrachtet. Bei der Geburt des Kindes stirbt sie. An diesem Akt zeigt sich auch die ganze Niedrigkeit des alten Karamasows, der damit prahlt, auch hässliche und „tierische“ Weiber zu begehren.

Die beiden weiblichen Figuren – Katharina Iwanonwna und Gruschenka – sind beide von stolzem Wesen, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. Katharina möchte bestimmen und die Menschen kontrollieren. Sie geht sogar so weit, dass sie ihr eigenes Leben opfert, um Macht über ein anderes zu gewinnen, sich freiwillig zu unterwerfen, um in ihrer Rolle ganz und gar aufzugehen, was nichts anderes als Selbstliebe zu sein scheint. Das, was sie als Liebe bezeichnet, ist in Wahrheit nur die eitle Vorstellung ihrer eigenen geschenkten Zuneigung, die sie gnädig darreicht. Trotzdem ist sie auch sehr großmütig und von geradezu mildtätig handelndem Wesen. Sie kann verzeihen, weil auch das Verzeihen ihrem Wesen Schönheit verleiht.
Dimitrij liebt sie nicht wirklich. Alleine ihre Bekanntschaft baut auf einer Lüge auf und die Verlobung kommt nur aufgrund seines Schuldgefühls zustande. Ab und an hat der Leser durchaus den Verdacht, es könnten wirkliche Gefühle für sie im Spiel sein, denn er hält sich für nicht gut genug für sie. Man könnte also annehmen, er möchte sich selbst bestrafen, indem er zu der im schlechten Ruf stehenden Gruschenka wechselt. Tatsächlich liebt er diese aber von Herzen und schon gar nicht aus Mitleid oder Selbstbestrafung.

Dagegen ist Iwans Liebe für Katharina echt, die sich seiner gefühlskalt bedient. Vielleicht weiß sie nicht, dass sie ihn liebt, entspricht sein Charakter ihrem eigenen. Sie könnte also niemals über ihn herrschen, wie es bei seinem Bruder durchaus der Fall wäre.
Das zweigeteilte Wesen, die Großmütigkeit und der Zorn auf Dimitrij zeigen diesem jedoch durch die Gerichtsszene, wie sehr er sie tatsächlich verletzt hat. Anhand ihres „ans Messer liefern“ sah er seine Schuld und ihre tiefe Gekränktheit.

Gruschenka ist von einfacherer Wesensart, verspielt, hin und wieder gemein. Sie leidet an einer Liebe zu einem Offizier, der sie einst sitzen ließ und macht sich einen Spaß aus den Gefühlen der Männer, die um sie buhlen. Wo man als Leser zunächst noch annimmt, die Wahl zwischen dem alten Karamasow und Dimitrij würde durch das getroffen werden, was ihr die Männer bieten, stellt sich der Charakter dieser Frau als völlig anders heraus. Sie zeigt sich am Ende als eine feine, sinnliche und zur Aufopferung bereite Frau.

Ein weiteres weibliches Wesen drängt sich in eine Nebenrolle und ist sehr schwer zu durchschauen. Hierbei handelt es sich um die zunächst gelähmte, dann geheilte und häufig unsicher kichernde, gleichzeitig, durch ihre Krankheit, leicht herrische Lisa, die mit Aljoscha aufgewachsen und sich in ihn verliebt hat. Sie verändert ihr Wesen später sehr stark und gibt vor, das Verbrechen zu lieben, sagt sogar, dass die Menschen immer das Verbrechen lieben, was, könnte man weiter deuten, die Schaulust erklärt.
Sie will bösartig sein, will ein Haus anzünden, will leiden und gequält werden, sie bietet sich Iwan an, der sie wohl mit seinen Ansichten beeindruckt und ihre verborgene Gefühlswelt explosiv nach außen gekehrt hat.
Wenn sie mit Aljoscha spricht und angibt, sie könne nur ihm alles sagen, so könnte man hier die Beichte hineindeuten, in der alles, selbst die geheimsten Gedanken und Träume offenbart werden, für die sich Lisa so sehr schämt, dass sie beschließt, den Inhalt solcher Gedanken hinauszuschreien und als wahr und gut anzuerkennen.
Sie verkörpert den Lebensekel, als ein Mensch, der vor sich selbst erschrickt und vor all dem, was in ihm lauert und herausbrechen könnte. Auch verkörpert sie die nihilistische Wirkung unter dem Einfluss einer "Idee". Das Wunder ihrer Heilung reinigt sie nicht, stattdessen hasst sie und ist von ihrer Wut überwältigt, muss damit, wie auch andere Gestalten Dostojewskis, die sich diesem Weg verschrieben haben, unweigerlich der Selbstzerstörung zum Opfer fallen.
Der Staretz Sossima trägt Aljoscha auf, nach seinem Tod das Kloster zu verlassen und in die Welt zu gehen, zu heiraten und dort zu wirken, was Aljoscha bedingungslos befolgt. Lisa ist die Auserwählte, die er zu heiraten beabsichtigt.

Smerdjakow ist ein schmieriger und eitler Mensch, obwohl er Bediensteter im Hause Karamasow ist. Er aber empfindet sich für höher stehend und fühlt sich den meisten Menschen überlegen, wobei es ihm an Bildung fehlt. Er vergöttert Iwan aufgrund seines Verstandes und seiner Moral, die enthält: Alles ist erlaubt! Smerdjakow wirkt wie eine Karikatur, wenn er übertrieben ängstlich ist oder in Tränen ausbricht, weil „eine schwache Person geschlagen wurde“, nämlich er selbst, und dann zu seinem „blaukarierten, gänzlich vollgeschnaubten Schnupftuch greift“ und sich in tiefes Weinen versenkt, was eine gute Weile dauert. „Jeder Zug seines runzligen Gesichts drückte die soeben erlittene Kränkung aus.“
Auch spricht er „alleweil“ eine übertrieben unterwürfige Sprache.

Im Gegensatz zu den „Dämonen“ sind hier nicht die Gespräche der Figuren die lenkende Richtung des Romans, sondern vielmehr die Stimme des Erzählers, der durch so manche Übertreibung das ganze auch zur Parodie oder tragischen Komödie gestaltet. Er nimmt den Leser bei der Hand und erzählt ihm nach und nach, was in „unserem Städtchen“ an Unglück geschehen ist, wobei er auch vieles vorwegnimmt.
Das Städtchen stellt sich nachher als Skotoprigonjewsk heraus, was eher eine scherzhafte Ortsbezeichnung wie „Rindspferchening“ ist. Anna Grigorjewna und Dostojewskis Tochter gaben später an, dass das „Städtchen“ Staraja Russa war, wo Dostojewski häufiger gelebt hat. Auch die Villa der Karamasows sei dem ähnlich, das Dostojewski bewohnt hat.
Um all das also zu beschreiben, dafür muss der Erzähler weit ausholen und die Familie Karamasow einkreisen, nebst wichtige Nebenfiguren und Ereignisse, aus denen die Charaktere hervorgegangen und sich vielleicht neu geprägt haben.
An manchen Stellen erscheint das fahrige Wesen des Erzählers (durch das der Geist Dostojewskis dringt) fast schon verwirrt und hin- und hergerissen. Man trifft auf Stellen, in denen vorangekündigt wird, dass etwas geschehen, dass eine Reaktion noch auf etwas Bestimmtes hinausführen, dass eine Figur sich noch anders besinnen wird. Man fühlt sich tatsächlich durch den Erzähler mitgerissen, manchmal stolpernd, dann wieder mitten in eine intensive und dadurch langsamer gestaltete Szene geworfen.
All das wirkt wie eine Kombination aus Erzählerstimme, Zeugenaussagen und dem Geschehen an sich.


3.
Das eigentliche Verbrechen in diesem Roman ist der Tod des alten Karamasow, der in seinem Haus für die erkaufte Liebe von Gruschenka dreitausend Rubel bereit hielt. Hier gerät der Leser mitten in das Geschehen, wenn auch nicht der Mord ihm vor die Nase gehalten wird, sondern lediglich Dimitrij, der sich durch den Garten an das Haus des Vaters heranschleicht.

Dostojewski hat hier ganze psychologische Arbeit geleistet, indem er alle vier wichtigen Charaktere in ihre Form gefasst hat. Iwan ist der mit der Idee, Aljoscha der „Schutzengel“, Dimitrij der Unberechenbare, der für seine Leidenschaft und Liebe zu Gruschenka alles tut. Smerdjakow ist der schleichende Schatten um die Brüder herum, den man sich hinter ihren gebeugten Rücken als größer werdendes schwarzes Ungeheuer vorstellen kann, das die Krallen ausstreckt, um dann schnell wieder zurückzuzucken. Sein Gespräch mit Iwan Karamasow ist der Anlass, warum alles kommt, wie es kommt, da er glaubt, ihn dazu bewegt zu haben, abzufahren, während sie alle ahnen, dass etwas Schreckliches geschehen wird. Smerdjakow hält Iwans Einwilligung in die Abreise für sein Einverständnis.


Zurück zur Fensterszene im Garten, wo der alte Karamasow in seiner ganzen Hässlichkeit hinausbeugt, um nach seiner ersehnten Gruschenka Ausschau zu halten:
Nachdem Dimitrij Karamasow durch den Garten flüchtet und noch den Diener zu Boden schlägt und annimmt, er hätte ihn getötet, taucht er aus einem benommenen verwirrten Zustand in einen Zustand der puren Euphorie.
Er will das Leben feiern, will Gruschenka, die ihrem Offizier nachgereist ist, der sie "zurücknehmen" will, alles Gute wünschen.
Ab hier wird alles verwirrend und unüberschaubar, denn bei der Verhaftung gibt Karamasow zwar an, er hätte den Diener erschlagen, niemals aber den Vater.

Dimitrij reist also seiner Gruschenka nach, deren einstige Liebe sich als hässlich entpuppt, warum sie Dimitrij wieder in ihr Herz schließt und zugibt, ihn gequält zu haben, weil sie sich selbst gequält hat.
Dieser läuft mit blutverschmierten Händen herum und wirft mit Geld um sich, wirkt dadurch schuldig, während der Leser weiß, dass das Blut in erster Linie vom Diener stammt. Gleichfalls ist das Geld verdächtig, das er zuvor nicht hatte. Dimitrij wird verhaftet.

Wenn man nun denkt, hier würde die Spannung schon unerträglich sein, so muss man feststellen, dass die eigentliche Spannung erst mit der Rückkehr Iwans eintritt, der in gewisser Art und Weise sich selbst begegnet und auch seine eigene Schuld zu hinterfragen beginnt.
Dostojewski jongliert mit seinen Charakteren, und der Leser ist mit seinen Ahnungen und Deutungen hin- und hergerissen, tendiert zu Verdacht und Verwerfen und wenn er sich sicher fühlt, wird er aufs Neue eines Besseren belehrt und wieder in das Verwirrspiel gestoßen.
Im Grunde weiß man, wer der Schuldige ist, aber man wird auch immer wieder in seiner Sicherheit irritiert. Alleine die Charaktere der Figuren ermöglichen, dass der Leser psychologisch einschätzt und richtig entscheidet. Aber um den einen Schuldigen geht es eigentlich auch gar nicht.

Im Grunde sind sie tatsächlich im gesamten Zusammenspiel aller Umstände alle miteinander schuldig, was die oben bereits erwähnte Aussage des Staretz Sossima untermalt.
Dimitrij mit seiner Wut, auf die Smerdjakow gerechnet hat und ohne die er seine Tat niemals vollführt hätte, Smerdjakow, der die eigene Existenz nicht verkraftet, als auch Iwan, der ihm zunächst das „Alles ist erlaubt!“ in den halbgebildeten Schädel setzt, der fährt, obwohl er etwas ahnt, der die Wahrheit hinausschiebt, aber vor allen Dingen, der Smerdjakow aus tiefster Seele verachtet.
Smerdjakow geht es am Ende gar nicht so sehr um das Geld (das er später dann auch ausdruckslos Iwan über den Tisch reicht), ihm geht es hauptsächlich um Rache an dieser Familie, die ihn aus dem eigenen Kreis hinausstieß. Bezeichnend ist dabei auch, dass sowohl Dimitrij als auch Smerdjakow auf verschiedene Weise das gleiche, harte Los durchmachten, aus dem sie unterschiedlich hervorgingen. Beide wuchsen zunächst beim alten Diener auf, den Dimitirj niederschlägt, der das Ganze allerdings überlebt. Während sich bei Dimitrij ein herrischer, selbstgefälliger, zorniger Charakter entwickelt hat, der aber im Herzen trotzdem gut und edel ist und Werte hat, die er durch sein ungestümes Wesen immer wieder neu über den Haufen wirft, so ist Smerdjakow von unterwürfiger Art, wenn auch stolz und neugierig.
Seine Rache ist eben jenes Unterschätzen seiner Klugheit, die Verachtung, die Iwan ihm entgegenbringt (er sei doch mehr Mücke als Mensch), die er nutzt und mit dem Selbstmord als krönenden Abschluss vervollkommnend (denn auch dieser ist ja dann unbedingt erlaubt), um die gesamte Familie Karamasow mit einem Schlag zu vernichten, nur weil er mit ihnen nie auf ein und derselben Stufe stehen durfte.

In diesem Sinne hat Smerdjakow absolut teuflisch und unmenschlich gehandelt und ist damit nicht nur "Werkzeug" Iwans, sondern erhebt sich selbst, geschmückt durch ein ausgeklügeltes Verbrechen, an dem er dann auch zugrunde geht. Sein Charakter hatte nie die Möglichkeit, sich zu formen, so gestaltete er sich nach eigenem Ermessen. „Unter Bildung verstand er gute Kleider, reine Vorhemden und gewichste Stiefel.“ Auch drehte er sich die Haare auf vornehme Art, obwohl er nur ein Lakai, ein Suppenkoch war. Er verkörpert das Endergebnis eines gottlosen Menschen, dem nichts mehr heilig ist, nicht einmal das eigene Leben.


4.
Durch das ganze Schauspiel samt der zwei Katastrophen – einmal der Mord und zum anderen die Beweislast gegen einen Unschuldigen – zeigt Dostojewski in seinen Figuren, insbesondere aber in Iwan, dass ein Mensch, der Gott entsagt und die Welt nicht akzeptiert, sondern an eine Idee glaubt, an ein Konstrukt, sich unweigerlich selbst verlieren muss und unter der Last der eigenen Verantwortung, die Kaltblütigkeit wird (der Mensch kann in Dostojewskis Augen nicht den Menschen lieben, wenn er Gott nicht voraussetzt und in dessen Sinne handelt), unter seinen Gedanken und verwirrten Zweifeln (die nicht ausbleiben können, wenn er beständig die Welt ohne Gott hinterfragt, also kein Vertrauen in den Verlauf der Dinge hat), kurz der den Halt verliert, notgedrungen zusammenbrechen muss.
Iwan verliert den Verstand. Sein Schuldgefühl, die inneren Konflikte durch den Verlust seines Glaubens, der nicht mehr weiß, wer er ist, sondern sich selbst als Teufelhalluzination kreiert, damit dieses böse Wesen ( - du bist ja nur meine hässliche und dumme Seite -) ihn in aller Form anklagt.
Und selbst Dimitrij wird geläutert und findet Gott und damit sich selbst und nimmt alle Schuld auf sich, um das Leid in der Welt durch seine Mitverantwortung - wir alle sind schuldig für alles – damit zu verringern.

Für Dostojewski ist dieser Menschengott eine Möglichkeit, die aber nicht funktioniert, will man Gott ganz und gar durch den Menschen ersetzen. Ihn ängstigt die Lücke, die daraufhin folgt, in der der Mensch ein „Alles ist erlaubt!“ anstrebt und sich über gewisse moralische Grundvoraussetzungen notgedrungen hinwegsetzen wird. Auch Iwan, der sich selbst bekämpft und, was noch wichtiger ist, letztendlich besiegt, so dass er, wenn er den Teufel für wirklich hält, auch automatisch Gott nicht ausschließen kann, scheitert nur daran, dass er an der Welt verzweifelt, weil seine "Idee" ihm letztendlich keinen Halt gibt. Aljoscha ist der einzige Karamasow (obwohl Karamasow), der seinen Weg findet und diesen mit Seelenruhe weitergeht. Er erkennt in den Kindern eine Zukunft, die nicht zum Untergang verurteilt ist, wenn ihnen die richtige Führung gewiesen wird.

Ach, meine Kindlein, ach, meine lieben Freunde, habt keine Angst vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Richtiges tut!



5.
Was an diesem Roman besonders beeindruckt, ist die dreifache Auslegung des Mordes durch den neutralen Umstand der Ereignisse, durch die psychologisch ausgeklügelte Auslegung des Staatsanwalts und die nicht weniger geschickte Deutung des Verteidigers. Dostojewski umkreist das Verbrechen also mehrfach und aus völlig verschiedenen Blickwinkeln, was dessen Begabung für die psychologischen Abgründe des Menschen hervortreten lässt. Alle Blickwinkel sind ausführlich, tief und voller Beweiskraft. Das ist nahezu genial.

Um noch einmal auf die Schuld zurückzukommen, die im "Großinquisitor" den Kindern durch ihre Väter überantwortet wird, weiß der Verteidiger Dimitrijs sich glänzend durchzusetzen, da er die Bedrohung "Vatermord" aufs Korn nimmt.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Dostojewski auf jene Väter hinweisen will, die ihre Kinder quälen und sich selbst überlassen, zu zeigen, was ihnen durch einen ungestümen Charakter blühen könnte, der sich nur aus dieser Nicht-Liebe bilden konnte und anderer unglücklicher Umstände.
„Die Liebe zum Vater ist, wenn der Vater sie nicht rechtfertigt, eine Albernheit, eine Unmöglichkeit.“

Die Schuldfrage, die zu stellen ist, die solche Grundgedanken enthält, wie: Wer ist verantwortlich für den Verbrecher? Die Erziehung, die Gesellschaft, jeder Mensch? Und rechtfertigt eine vermurkste Kindheit das spätere Verbrechen oder die verkorkste Persönlichkeit eines Menschen? – ist eine Sache, um wie der Apostel auszurufen: „Väter, betrübet nicht eure Kinder!“

… erfüllen wir zuerst selbst das Gebot Christi, und dann erst lasst uns auch von unseren Kindern die Erfüllung der Gebote verlangen! Anderenfalls sind wir nicht die Väter, sondern die Feinde unserer Kinder, und auch sie sind dann nicht“unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst machen sie zu unseren Feinden! „Mit welchem Maße ihr messet, wird euch wiedergemessen werden.“

Um diese Gedanken zu untermalen, hat Dostojewski auch die Geschichte mit dem jungen und kranken Kind Iljuscha eingefügt, das nicht verkraften kann, dass sein Vater von Dimitrij so beleidigt und erniedrigt worden ist, obwohl es für seinen Vater um Gnade gebeten hat.


„Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit anderen, würdigen Vätern seiner Altergenossen, veranlasst den Jüngling unwillkürlich zum Nachdenken und gibt ihm unwillkürlich qualvolle Fragen ein.“


Gleichzeitig aber wird dieser Eindruck durch einen anderen überdeckt, dass Dostojewski fest daran glaubt, dass ein Mensch, dem das Schicksal von Kindheit an übel mitspielt, trotz allem ein guter Mensch werden kann, der edle Gefühle und Werte in sich trägt, dankbar ist… „für eine Handvoll Nüsse“.


Zitat von Dostojewski
„Alle ihre Leidenschaften sind, im Gegenteil, schnell gestillt, aber in der Nähe eines edlen, schönen Wesens sucht dieser anscheinend rohe und grausame Mensch Selbsterneuerung, sucht er die Möglichkeit, sich zu bessern, gut zu werden, ehrlich und edel, oder „schön und erhaben“, wie sehr dieses Wort auch verspottet werden mag.“



Der Ratschlag des Verteidigers an die Geschworenen ist: Erschüttern Sie den Angeklagten durch Ihre Barmherzigkeit. Nehmen Sie ihm durch ein schweres Urteil nicht die Möglichkeit, noch ein Mensch zu werden.

Zitat von Dostojewski
Es gibt Seelen, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt anklagen. Doch erschüttern Sie diese Seele mit Ihrer Barmherzigkeit, erweisen Sie ihr nur einmal im Leben Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es liegen so viel gute Keime in ihr. Seine Seele wird sich weiten und wird einsehen, wie barmherzig Gott ist, wie schön und gerecht die Menschen sind.




Durch „Raskolnikow“ weiß der Leser, dass Dostojewski daran glaubte, dass ein Verbrecher durch niemanden mehr angeklagt wird, als durch sich selbst und sein eigenes Gewissen. Die Aufgabe des Gerichts wäre demnach, laut Dostojewski, nicht schuldig zu sprechen, sondern einen Gefallenen zu retten und ihm wieder durch Barmherzigkeit auf die Beine zu helfen.

Das sagt ein Mensch, der unschuldig nach Sibirien geschickt worden ist und dort sich selbst kennengelernt hat, der ohne Wut, aber mit einer unendlich tiefen Seele zurückgekehrt ist.



"Es lebe Karamasow!"




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 12.08.2011 15:12 | nach oben springen
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#291

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 14:37
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Taxine,

aus diesem gewaltig langen Text, möchte ich einiges spontan herausgreifen:

Zitat von Taxine

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“


Tod und Zerfall haben nichts Endgültiges und Negatives an sich. Daraus erwächst etwas Größeres und noch nicht Erschautes,… ein neues, besseres Leben. Und darum kann für Dostojewski auch in jedem Verbrecher und Schurken eine gute Seele wachsen, die sich selbst hinterfragt und die ihre eigenen Fehler erkennt.



Zum Text aus Johannes: Das bezieht sich wohl auf Jesus, der erst durch seinen Tod, nach dem Glauben, die Sünden der Welt auf sich genommen hat und dadurch im Tod noch Früchte sähen konnte.

Jedem Verbrecher steht die Möglichkeit offen, seine Untaten zu bereuen, darum auch nicht der Mensch an sich bestraft wird (wir sind ja alle Menschen) sondern nur die Tat. Einem Verbrecher darf ja auch nicht die Menschenwürde genommen werden. Bestraft wird allein nur das Verbrechen. Daraus ergibt sich auch, Todesstrafe bleibt immer eine Menschenrechtsverletzung. Staaten die so etwas befürworten, haben da einiges nicht kapiert.

Zitat von Taxine

Warum leiden auch diese Unschuldigen in einer Welt, die doch angeblich von einem guten Gott erschaffen wurde



Das ist eine der Grundfragen, die ja immer wieder auftauchen. Wie konnte Gott so eine Welt erschaffen, in der sogar unschuldige Kinder leiden. Christlich/Theologisch finde ich selbst keine Antwort darauf. Wenn Christus die Sünden der Welt auf sich genommen hat, warum leiden Menschen dann noch? Der christliche Gott liebt die Menschen. Warum dann Leiden?

Zitat von Dostojewskij
(…) Und was ist das für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, dass noch gelitten werde. Und wenn die Leiden der Kinder zu jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, unbedingt hinzukommen müssen, so behaupte ich im voraus, dass die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist.



Harmonie und Hölle. Hier haben wir den Dualismus, den die östliche Philosophie überwinden möchte. Was ist Harmonie? Das Göttliche, der GEIST, den wir in uns tragen, ihn aber nicht warnehmen, im Schatten unseres Daseins sich verbirgt, weil unser Geist anderweitig hüpft, abgelenkt ist, aus den Anhaftungen dieser Welt sich nicht befreien kann und darum der Mensch leidet?

Zitat von Dostojewskij
Der Staretz ist ein Mönch, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich vom eigenen Willen los und übergibt ihn dem Staretz zu unbedingtem Gehorsam bei vollständiger Selbstverleugnung...



Zitat von Taxine
Wie im Buddhismus, soll der Mensch sich also einen Meister suchen und sein Ich überwinden, der Illusion „Welt“ entsagen und die volle Freiheit erlangen (jedoch bereits im Hier und Jetzt).



Puh. das ist schon starker Tobak: "vollständige Selbstverleugnung". Ich bezweifle doch, dass diese Beschreibung eines Staretz Ähnlichkeit mit einem buddhistischen Lehrer hat, du, Taxine, den Sinn des Buddhismus aber sehr schön erläutert hast. Ein buddh. Lehrer dringt nicht in die Seele eines Schülers ein und nimmt auch nicht seinen Willen auf, sondern der Lehrer ist Buddhanatur, der Schüler ebenso. Diese Beziehung ist gegenseitig völlig selbstlos.

Zitat von Shunryu Suzuki, "Zen-Geist Anfänger-Geist"

Wenn ihr euch also an die Lehre oder den Lehrer klammert, ist das ein großer Fehler. In dem Augenblick, in dem ihr dem Lehrer begegnet, solltet ihr ihn bereits wieder verlassen und unabhängig sein.



Weil das Lehrer/Schüler Verhältnis im Buddhismus auf Selbstlosigkeit beruht, übt der Lehrer keine Macht o.ä. auf den Schüler aus.

Zitat von Taxine
Auch die Einrichtung des Startzentum wurde im Osten und in der dort angewendeten Praxis geboren. Der Staretz verfügt über eine sehr große Macht über den Mönch, der ihm Gehorsam versprochen hat, warum das Startzentum in vielen Klöstern auch Feindseligkeit ausgelöst hat. Vom Volk wurden diese Menschen geachtet und verehrt. So ist das Startzentum ein zweischneidiges Schwert, dient der sittlichen Auferstehung des Menschen „von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung“, kann aber auch, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu „satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht zur Freiheit“ führen.



Mir ist noch nicht klar, warum ein Staretz soviel "Macht" hat. Ist der Staretz, als vorsichtige Frage gedacht, hier nicht eher wie manch hinduistischer Guru im Westen, dem viele Menschen hinterherlaufen, weil sie vergessen haben, dass die hohen inneren Werte in sich selber ruhen?

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#292

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 15:22
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Werter Martinus,

herzlichen Dank für deine schönen Gedanken.

Zitat von Martinus
Puh. das ist schon starker Tobak: "vollständige Selbstverleugnung". Ich bezweifle doch, dass diese Beschreibung eines Staretz Ähnlichkeit mit einem buddhistischen Lehrer hat, auch wenn du Taxine, denn Sinn des Buddhismus sehr schön erläutert hast. Ein buddh. Lehrer dringt nicht in die Seele eines Schülers ein und nimmt auch nicht seinen Willen auf, sondern der Lehrer ist Buddhanatur, der Schüler ebenso. Diese Beziehung ist gegenseitig völlig selbstlos.


Ja, in diesem Sinne habe ich nur die Grund-Parallelen geknüpft, weil das Startzentum wohl durch den Osten geprägt ist. Sossima verkündet Liebe. Er nimmt auch Aljoscha als Schüler nicht bis zur Selbstverleugnung ein. Tatsächlich, und das sollte man vielleicht auch betonen, entspricht Sossima nicht einmal den Vorschriften des eigenen Klosters, wo sich die Mönche in Demut und Kasteiung (Wasser und Brot) üben. Er fordert, dass der Mensch sich auf sich selbst besinnt und in Liebe handelt und in sich die Liebe immer wieder neu erweckt. Er lebt den Mönchen auch vor, dass das Leben nicht in Selbstbestrafung, sondern in einem wachen Blick auf die Welt zu leben ist. Aljoscha trägt Sossimas Lehre dann durch sein Handeln in die Welt.

Iwan und seine Zweifel an der Welt (Der Großinquisitor) sollten grundsätzlich skeptisch betrachtet werden. Dostojewski führt ihn als den Gegensatz zum Glauben und Handeln in der Welt an. Er hat resigniert und kann das Leid nicht ertragen. Aber, wie wir ja wissen, ist alles Leid, jede kleinere Quälerei, jeder Gedanke, an den sich geklammert wird... usw. Das Leiden führt zur Selbsterkenntnis, ohne das Leiden würde der Mensch vielleicht flacher und oberflächlicher sein (auch das ist ja eine bekannt philosophische Hinterfragung).

Was für mich interessant war, ist besonders das Leid der Kinder, das durch die Schuld der Väter übertragen wird. Hier würde ich die Väter gar nicht einmal in den Vordergrund rücken, sondern auch die Wiedergeburt und die Schuld eines anderen Lebens, die dann abgetragen werden muss. Natürlich ist der Blick von Iwan zu sehr auf diese eine Welt, dieses eine Leben beschränkt, darum verzweifelt er auch, weil er das Leid nicht begreifen kann. Blickt man aber über diese Welt bzw. das eine Leben hinaus, so eröffnet sich ein neuer Blickwinkel.
Die Harmonie ist ja in diesem Sinne dann auch nichts anderes als die Leere, das Nirwana im Buddhismus. Um sie zu erlangen, muss der Mensch durch die Stufen des Leidens wandeln. Er kann sich allerdings selbst daraus befreien, wenn er darüber nicht das Leben zu hassen lernt (wie Sossima so schön sagt), wenn er seine Verbindung zum GEIST nicht zerstört, in dem er ihn z. B. verwirft, damit auch das Alles-ist-miteinander-verbunden-sein. Iwan führt auch das Leid der Kinder an, weil er selbst leidet und dieses Leid nicht dulden möchte. Er begegnet in Halluzinationen dem Teufel, der ihm als Handlanger des eigentlichen Satans in seinen Eitelkeiten reizt und im Grunde nur beweist, dass in ihm etwas gärt, das mit dem Verlust seines Glaubens (nicht an Gott, wie ja bereits erwähnt, sondern an die Welt, an das Leben) alles überschattet und verbittert.


Zitat von Martinus
Mir ist noch nicht klar, warum ein Staretz soviel "Macht" hat. Ist der Staretz, als vorsichtige Frage gedacht, hier nicht eher wie manch hinduistischer Guru im Westen, dem viele Menschen hinterherlaufen, weil sie vergessen haben, dass die hohen inneren Werte in sich selber ruhen?


Ja, das trifft es wohl auf den Punkt. Die Macht gestaltet sich aus der Gläubigkeit des Volkes und der Zwänge des Klosters, dass, wer sich entscheidet, das Kloster zu betreten, sich ganz und gar dem Ganzen überlässt. Sossima, wie gesagt, stellt in den Augen der übrigen Mönche einen kritischen Gegensatz zur eigentlichen Startzen-Lehre dar. Dostojewski führt auch ganz am Anfang eine schöne Szene an, wo Sossima sich dem Volk nähert, obwohl er schwächlich und krank ist und sich die Sorgen der Leute anhört, die von weither gepilgert kommen, um ihn zu sehen oder sich segnen zu lassen. Allein seine Präsenz vermittelt Trost und Kraft, während es an den Menschen ist, sich in sich selbst zu hinterfragen. Sossima gibt nur den Anstoß.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
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#293

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 15:50
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Taxine
Er kann sich allerdings selbst daraus befreien, wenn er darüber nicht das Leben zu hassen lernt (wie Sossima so schön sagt), seine Verbindung zum GEIST zerstört, in dem er ihn z. B. verwirft, damit auch das Alles-ist-miteinander-verbunden

.

Ja, das ist schön. Nicht wegen des Leides griesgrämig verzweifeln an der Welt, daraus sich Hass entwickeln könnte, sondern versuchen positive innere Kräfte zu mobilisieren, größere Zusammenhänge finden. Alles hängt irgendwie zusammen im Kosmos, somit das Leiden der Menschen allgemein betrachtet werden muss. Das Leiden einzelner vielleicht ja doch mit dem Leid aller Menschen verknüpft ist. Iwan solch einen Zusammenhang nicht erfassen kann.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#294

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2011 16:26
von Krümel • 499 Beiträge

Ich werde nächstes Jahr intensiver mit Dostojewski beginnen. Hier stehen schon "Die Brüder Karamasoff" und "Die Dämonen", "Schuld und Sühne" ist im Anmarsch, und dann werde ich diesen Ordner ganz gemütlich nach und nach lesen

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#295

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 13.08.2011 20:02
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

oh oh
zwei wochen nicht da und schwerwiegende und umfangreiche Texte liegen schwer in diesem Thread. da hab ich ja erst mal zu tun bin neugierig. da werde ich mir mal wieder die profanen stellen heraussuchen um reagieren zu können.


www.dostojewski.eu
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#296

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 14.08.2011 13:16
von LX.C • 2.821 Beiträge

Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" sind sehr philosophisch. Fast schon eine philosophische Abhandlung mit exemplarischem Beispiel. Habe selten ein Buch so langsam lesen müssen. Mein Problem damit ist, dass die Geschichte im Sinne einer Handlung bei alldem viel zu kurz kommt. Wer Geschichten liebt, wer die russische Erzählung liebt, wie sie Tschechow, Puschkin oder Gogol betrieben, ohne den tieferen Sinn dabei zu vernachlässigen, der wird in "Aufzeichnungen …" (Und vielleicht bei Dostojewski überhaupt? - Bitte um Antwort) an der kurzen Leine gehalten und vermisst etwas. So mein Eindruck.


--------------
[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 14.08.2011 13:16 | nach oben springen
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#297

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 14.08.2011 14:48
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Zitat LXC
Wer Geschichten liebt, wer die russische Erzählung liebt, wie sie Tschechow, Puschkin oder Gogol betrieben, ohne den tieferen Sinn dabei zu vernachlässigen, der wird in "Aufzeichnungen …" (Und vielleicht bei Dostojewski überhaupt) an der kurzen Leine gehalten.

Nach meinem Dafürhalten trifft es den Nagel auf den Kopf. Man bekommt eher nichts episches von D. geboten. Eigentlich haben seine Werke nahezu ausschließlich sehr starke dramatische Züge. Es gab nur wenige Konstanten in seinem Leben; die ungebrochene Leidenschaft zu Schiller war eine. Auch ein Grund weshalb nahezu alles von D. sich wiederholt auf der Theaterbühne wiederfindet.
Alles, wirklich alles, was er an Romanen und Novellen schrieb, ist ausgesprochen philosphisch. Wenn ich es beim Lesen tendenziell mitbekommen habe, mich aber vorrangig, der dramitische Verlauf gefesselt hat, so weiß ich nach reichlicher Sekundärliteratur zu seinen Werken, dass nahezu jedes Komma einen philophischen Hintergrund besitzt. Und so hat jeder eben einen anderen Zugang zu seinem Werk. Der philosphische ist mir da eher versperrt.
Gerigk, einer der grandiosen Literaturwissenschaftler und Dostojewski-Experte strukturiert in Dostojewskis Werk grundsätzlich 4 Ebenen (natürlich keine rein Dostojewskispezifische. Jedoch D. bedient immer alle Ebenen).Er nennt es Schriftsinne:
1) der buchstäbliche Schriftsinn
2) der allegorische Schriftsinn
3) der tropologische Schriftsinn
4) der anagogische Schriftsinn

Kein Text Dostojewskis ohne diese vier Schriftsinne. Und der buchstäbliche Schriftsinn ist halt nur das Skelett (noch zudem dramatisch) an dem die weiteren Ebenen befestigt werden. Bei der allegorischen bin ich noch im Boot. Dann steig ich in der Regel aus und Matinius und Taxine steigen ein. ;-)

Das alles hat wiederum noch nichts mit den verschiedenen Blickwinkeln zu tun, unter denen verschiedenste Professionen das Werk Dostojewski beleuchten. Die bedienen sich dann nicht selten dessen Schriftsinns, der Ihrem Fach am zuträglichsten erscheint.

Es gibt z.B. auch einen hervorragenden Text von Gerigk Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs

Ich verfranse mich. Wen die Aspekte möglicher Betrachsweisen interessieren, liegt mit keinem Text oder Buch von Gerigk falsch. Der Aha-Effekt scheint mir garantiert.


www.dostojewski.eu
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#298

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 14.08.2011 15:29
von LX.C • 2.821 Beiträge

Aber ist der philosophische Sinn dann nicht der entscheidende, wenn er so vordergründig die Erzählung auszumachen scheint? Ich habe immer wieder bestimmte Punkte wie eine Schablone auf mich übertragen können. Und dabei gedacht, ob man sich dabei schämen muss oder nicht, weil der Erzähler einem ja höchst unsympathisch ist und man eigentlich gar nicht seiner Meinung sein möchte. Aber ich bin noch nicht fertig. Wie gesagt, selbst dieses kleine Büchlein braucht Zeit. "Die Brüder Karamasow", die ich auch schon mal angefangen hatte (das Buch dann aber verschenkt habe), werde ich so schnell bestimmt nicht lesen. (Für mich ist die Zeit noch nicht reif).


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#299

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 14.08.2011 17:20
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Aus Sicht Dostojewskis ist sicherlich der philosophische Sinn der alles Bestimmende, neben der Verwertbarkeit in Periodika, denn in denen erschienen alle seine Werke zuerst.
Wenn man dieser Sinnhaftikeit auf den "höheren" Stufen nicht oder kaum folgen kann, wie ich zum Beispiel, hat Dostojewski mit seiner Mühe halt Perlen vor die Säue geschmissen. Ich finde das für mich nicht beschämend, wenn ich mich auf niederer Ebene bereits oder eben nur vergnügen kann, erscheint mir das legitim.
Da Dostojewskis Werk mit höchstem Schriftsinn so ausgesprochen überladen ist, gibt es ja auch diverseste Auskopplungen. So z.B. den Großinquisitor. Bei dem sollte ich es bis auf Stufe 3 geschafft haben ;-)
Die Karamasows haben mich auch völlig überfordert. Ich verspüre keine Lust sie nochmals anzugehen. Ich würde wieder scheitern. Zumal ich nun weiß, was die intellektuell-psychologisch-theologische Welt dort hineininterpretiert bzw. herausliest.
Dostojewski ist wahrlich alles andere als ein Sympathieträger, deshalb kann man ja trotzdem von Teilen seiner Sichten angetan sein. Dann ist man sogar "einen Schritt weiter", denn man vermag im vollen Wissen um diesen griesgrämigen Reaktionär, Teile seines Schaffens zu goutieren.


www.dostojewski.eu
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#300

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 14.08.2011 18:44
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Jatman1
Ich finde das für mich nicht beschämend, wenn ich mich auf niederer Ebene bereits oder eben nur vergnügen kann, erscheint mir das legitim.



Da haben wir uns falsch verstanden. Jeder verstehe ein Werk wie er mag und jeder findet einen anderen Zugang dazu. Das ist gar kein Problem. Ich meinte vielmehr, dass man sich von diesem unangenehmen Erzähler, der ja aus eigener Erfahrung und Beobachtung schöpft, ertappt fühlt, wenn man seine Philosophie aufgreift und das eigene Ich dabei reflektiert.

Zitat von Jatman1
Dostojewski ist wahrlich alles andere als ein Sympathieträger, deshalb kann man ja trotzdem von Teilen seiner Sichten angetan sein.



Der Erzähler ist zwar eine Schöpfung des Autors Dostojewski, aber gleichsetzen sollte man beide nicht. (Literaturwiss. ist das jedenfalls in den seltensten Fällen legitim). Den Erzähler empfinde ich bisher als abstoßenden Menschen (ich glaube, das hat Dostojewski auch gewollt), es würde mir aber nicht im Traum einfallen, diese Empfindung auf den Autor zu übertragen.


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