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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#361

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 03.12.2011 20:50
von Krümel • 499 Beiträge

Nun habe auch ich die "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" beendet und kann mit den Kommentaren von Taxine auch etwas anfangen, obwohl ich mir nicht so sicher bin, ob das (also Rache) wirklich dahinter steckt. Das Verhalten von X, den unbekannten Protagonisten wie es heißt; ich habe auf Seite 86 Manfredartiges gelesen, heißt er Manfred?; in der Szene mit seinen "Freunden" lässt für mich eher das Gefühl zurück, dass er zu tiefst gedemütigt war. Schon aus der Vergangenheit kennt er das und der aktuelle Anlass setzt noch eine Demütigung drauf. Bei mir hat sich beim Lesen total der Magen verkrampft, ich hätte am liebsten mit gemischt ... Und dann kommt Lisa, hm ja, das hätte doch zum Schluss so gut ausgehen können. Auch hier denke ich aber, dass diese Bösartigkeit eher daher rührt, dass er wirklich schon zu oft gestrandet war, er wirklich einen tiefen Knacks hat, ja neurotisch handelt, als dass das ein Racheakt aus purem Hass war. Wenn man das ins wahre Leben setzt, hat er dadurch höchstwahrscheinlich die Chance im Leben vertan und wird immer daran zu knabbern haben.

Ferner ist die Novelle ein Anspielung auf den Leser überhaupt. Wie weit entwickeln wir uns zu diesem X, kapseln uns ab und leben lieber in der Vergeistigten-Welt als unter Menschen, die uns nicht verstehen wollen und können. Ich denke, jeder von uns hier, der eine mehr, der andere weniger, schafft sich seinen eigenen Raum und das ist auch gut so. Natürlich sollte man dabei das Leben neben der Kunst/Literatur noch wahrnehmen, leben. Diese Novelle ist halt eine arge Übertreibung, und hält uns so ironisch den Spiegel vor.

zuletzt bearbeitet 03.12.2011 20:51 | nach oben springen
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#362

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 21.03.2012 18:02
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Das könnte ich für mich so unterschreiben :

Die Sprache sollte ihre Schönheit und Kraft nicht aus
erlesener Einfachheit schöpfen, sondern aus dem Feuer der Leidenschaft.
Dostojewskij tat sich nie durch Auserlesenheit hervor,
bei ihm findet sich keine einzige Landschaftsbeschreibung wie
bei Turgenjew, Grischin und Paustowskij.
Doch welch furchtbare Kraft lebt in der Sprache Dostojewskijs.
So müssen die Worte dem Menschenherzen eingebrannt werden.
Dann kann es geschehen, dass die Menschen
nach dem verlorenen Sinn der Worte suchen.


(Valerij Tarsis "Botschaft aus dem Irrenhaus" - Possev Verlag, 1965)




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#363

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 15.05.2012 19:45
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Nach geraumer Zeit mal wieder ein Hallo. Natürlich an der Stelle wo es für mich hingehört :-)
Ich wollt `mal sehen ob ich bereits ausradiert wurde ;-) Glücklicher Weise nicht.

Ich befinde mich immer noch auf einer literarischen Einbahnstraße, die da Dostojewski-Allee heißt. Um hochtrabend mit Goethe daher zu lavieren: Besen Besen, seids gewesen!" funktioniert leider nicht. Ich kaufe und lese inzwischen Bücher bzw. Teile davon, nur weil sie in irgendeiner Spezifik Dostojewski behandeln. Ja ja, da fragt sich mancher, ob ich mich schon um einen Therapeuten bemüht habe.

Zu Dostojewski vielleicht erstmal soviel: Ich kann in Stücken zusehends nachvollziehen, in welchem Ausmaß Dostojewskis Widersprüchlichkeit der Reiz für sein Tun und seine Person darstellt. Der Mystiker, der kein wirklicher war, wird auf ewig ein Mysterium bleiben. Ansonsten hätten nicht an seiner Beerdigung Unmengen von Studenten teilgenommen, denn gegen die hatte er ja reichlich "pamphletisiert".
Da fängt er schon wieder an, der heiße Brei, zu fließen "and who stop the . . ?!"


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#364

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 16.05.2012 01:01
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Hi Jatman...

Zitat von Jatman
Ich kaufe und lese inzwischen Bücher bzw. Teile davon, nur weil sie in irgendeiner Spezifik Dostojewski behandeln.


Gibt's Neuentdecktes, das sich lohnt?


Kennst du den schon?



(Emil Filla "Ein Leser Dostojewskis", 1907, Öl auf Leinwand, 98,5 x 80 cm)

(Quelle: valerykritchallo.com)




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#365

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 09:07
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Nein, den kannte ich noch nicht. Werde ich mal der Bilder-Link-Sammlung hinzufügen.
Mit dem Neuentdecken ist das inzwischen so eine Sache. Bei dem was ich lese findet sich natürlich viel Wiederholung. Es sind jeweils "nur noch " einzelne Gedankengänge oder Überlegungen. Zumal ich inzwischen einiges gelesen habe, werden die Texte in der Regel zunehmend spezifischer und übersteigen meinen Horizont. Als Maniac finde ich aber doch immer wieder etwas für mich interessantes heraus.
Vor kurzem habe ich mir mal Rachmanowa, Alja; Das Leben eines großen Sünders angetan. Ist eine belletristische Biographie. Satte 1.200 Seiten in zwei Bänden. Ist zwar teilweise etwas ziehend, das sie Dostojewski unentwegt seine eigenen Gedankengänge ausgiebig zurechtdenkt. Das religiöse Element ist leicht über strapaziert, aber durchaus erträglich. Sie vermischt etwas zu stark Biographisches mit den Inhalten seines Werkes. Die Überschneidungen sind ein wenig zu groß. Alles in allem jedoch ein belletristisches Werk, dass ein Unbedarfter in Sachen Dostojewski sicherlich gern und auch zu Ende lesen wird.
Was die vielen Gedankengänge Dostojewskis anbelangt, gibt es eine "Besonderheit" die ihr möglicherweise "das Recht" gibt ihn so weit zu interpretieren. Dieser besondere Umstand ist der unglaubliche Lebens- und Leidensweg der Autorin, der Dostojewskis in Leid und Elend sicherlich in nichts nachstehht. Galina Djuragin
So weit so kurz.


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#366

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 09:36
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

In Sachen neu entdeckt. Zum Thema Verhältnis Dostjewski und Suslowa. Möglicherweise ist dieses Verhältnis viel zu sehr hochgespielt und mit diversen Anreichererunegn versehen worden. In einer Mailantwort habe ich einfach mal drauflos geschrieben/ gedacht. Gegenstand des Geschriebsels war das Zitat aus Suslowas Tagebuch Er war es, der alle Ideale in mir getötet hat , das meine Schreibpartner als viel zu heftig empfand. Ich kopier meine Gedanken mal reinfach hier rein:

>"Er war es, der alle Ideale in mir getötet hat", kommt mir ja ziemlich hart vor . . .<
Ich kann diese Einschätzung nachvollziehen. Polina ist ja nicht an Dostojewski geraten, da er so ein toller Typ war, weder äußerlich noch im Umgang. Sie fühlte sich angezogen von einem großen, tiefgründigen, essentiellen Denker, der die Welt anders begriff als viele andere zu seiner Zeit. Sie sah in ihm schon substanziell Gedanken abgehandelt, zu denen sie erst auf dem Weg war. Und da sie sehr jung war, waren ihre persönlichen Ansichten nicht durch Erfahrung geprägte, sondern mit Emotionen eng verwobene. Deswegen trifft es das Wort "Ideale" auch genau auf den Punkt.

Ein Ideal ist nie zu erreichen, man kann sich ihm nur nähern. Jungen Menschen ist das emotional noch nicht vollends verständlich. Viel Menschen starten ihr Leben mit Idealen, die im Laufe ihrer Lebenszeit ab - und zurechtgeschliffen werden, wenn nicht gar verschwinden, wechseln oder selbst sich ins Gegenteil umkehren. Ein Prozess - ein gewaltiger, ein erlösender, ein zehrender, ein . . .
Und eben um jenen Prozess, der eigentlich ein gewöhnlicher ist, ist Polina durch die Bekanntschaft mit Dostojewski betrogen worden. So wurde sie im Schnellkurs darauf gestoßen, dass es mit Idealen nicht weit her ist. Eben auch bei einem Dostojewski in natura. Die Welt der Person Dostojewski stand eben in krassem Widerspruch zu seinen geistigen Idealisierungen und dies in ausgeprägtem Maße. Das allein wäre als Schock, Irritierung oder Enttäuschung ausreichend. Mischt sich in eine solche entscheidende belastende Konstellation noch Liebe (also tendenzielle Vernachlässigung des Rationalen), die zudem unbefriedigend verläuft, hat man in Folge eine Verstärkung von eh belastenden Umständen.
Und just in absolut zeitlicher Unmittelbarkeit versucht Polina, ihre Gefühle auf das Papier zu bringen. Vor diesem Hintergrund, halte ich diesen Satz für absolut nachvollziehbar. Er ist ja auch nicht postum in der Rückschau geschrieben worden, sondern unmittelbar im Erleben. Es war ihr Erleben in diesem Moment. Also für mich passt das.

Zitat"weil ich Dostojewski ja durchaus als einen Menschen voller Ideale sehe (zugleich natürlich auch voller Selbsttäuschungen bzw. vergeblicher Vorsätze)."

Ja in der Draufschau, Rückschau und mit mehrfach belichteten Wahrheiten kann man rationell zu einem solchen Schluss und daraus resultierender Verwunderung gelangen. Wir haben einen Abstand zu dem Geschehen, das größer und abstrakter kaum sein könnte.

Und zudem entscheidend - der feine aber essentielle Unterschied:
Polina dürfte in ihrer Jugendlichkeit eben in Dostojewski das Ideal vermutet, angenommen, erwünscht, projiziert haben. Das war aber nun mal gar nicht zu haben, sondern noch eher Gegenteiliges. Dostojewski war ein Kauz. Dieses überfrachtete Konglomerat aus verwobenen Erwartungshaltungen dürfte generell bereits zum Scheitern verurteilt gewesen sein.
Und Dostojewskis Persönlichkeit war sicherlich gut genug dazu, dies auf unangenehmste Weise zu bewirken.
Was bei der Betrachtung noch völlig unberücksichtigt geblieben ist und wohl auch bleiben wird, ist das Libido der beiden. Gleich dem, wie es, was und was nicht gelaufen ist - es lief nicht gut. Es war unbefriedigend. Dies sollte allein schon reichen, als junger Mensch an der Welt zu zweifeln. Dies ist jedoch im Fall Polina / Dostojewski bloß eine Zugabe.

Was ich zeitlich jetzt nicht einordnen kann, ist die gescheiterte Beziehung zu dem Spanier. Da hat sie sich nun mit der "leichten Variante" der Liebe eingelassen und bekommt ebenfalls voll die Breitseite. Auch diese Erfahrung, reicht ja nicht selten um am Boden zerstört zu sein. Und wieder ist es nur eine Zugabe für das Innenleben von Polina.

Packt man diese Aspekte alle zusammen, sollte es nicht verwunderlich sein, wenn Polinas intellektuelle Überfliegerei und Schöngeisterei Absturz erleidet und bei der Beurteilung ihrer Situation massiv in den Hintergrund geschoben wird.

Und selbst wenn alles nicht an dem war, gibt es noch die Möglichkeit, dass Polina nicht am Boden zerstört gewesen ist, aber stinkwütend - auf sich. Vielleicht darüber, dass sie sich hat so blenden lassen bzw. sich selbst geblendet hatte, wo sie doch einen so messerscharfen verstand besaß. Wut muss ein Ziel haben. Wer aber will gegen sich selbst wütend sein. Ist man nicht scharf drauf. Da ist es besser, etwas oder jemanden anders die generelle Verantwortung, gegebenenfalls wider besseres Wissens, zuzuschreiben. Vielleicht hat sie mit diesem Satz nichts weiter bezweckt oder dies zumindest vordergründig.

Der Gedanke scheint gar nicht so fremd, wenn man in Betracht zieht, wie sie mit Rosanow umgegangen ist. Die Beziehung war gegessen. Sie lebten auch nicht mehr zusammen. Über Jahre aber verweigerte Polina die Scheidung. Dies hätte dann ein ähnliches Muster sein können: Für meine Enttäuschungen und/oder Fehler schreibe ich anderen Verantwortung zu. Bei Dostojewski schriftlich und bei Rosanow durch Handeln.
Aber weiß der Geier. Wie auch immer, anscheinend muss man den Satz wohl nicht so klar hinnehmen wie er sich liest.


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#367

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 13:24
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Hallo Jatman ...

Zitat von Jatman
Mit dem Neuentdecken ist das inzwischen so eine Sache. Bei dem was ich lese findet sich natürlich viel Wiederholung. Es sind jeweils "nur noch " einzelne Gedankengänge oder Überlegungen.



Da kommt mir der Gedanke, dass so vieles, was es über Dostojewski gibt, auch irgendwo Übernommenes und durchaus Interpretiertes ist. Es ist ähnlich wie das, was du über die Suslowa und ihr Ideal von ihm sagst. Wie viele, die von Dostojewskis Werk beeindruckt waren, haben sich ihre Gedanken darüber gemacht und ihr Bild auf diesen Mann projiziert, darüber geschrieben usw. und haben sich damit gleichzeitig von dem Tatsächlichen entfernt.
Werke, in denen man Dostojewski wirklich näher rückt, sind tatsächlich, man mag es kaum glauben, die Aufzeichnungen seiner Frau. Ich finde, dort wird er mehr als lebendig, in seiner ganzen Art und Weise. Natürlich auch in seinen Briefen, aber auch die muss man als das sehen, was sie sind - hauptsächlich Bitten an Menschen, von denen er sich etwas erhofft, ob nun eine Antwort durch den Bruder oder Geld vom Verleger oder andere Dinge.
Anna Grigorjewna aber, nicht in ihrer Zusammenfassung des Aufgezeichneten, sondern in ihren Tagebüchern, hat ihn als Person doch wirklich gut eingefangen. Natürlich bleibt es ihr subjektiver Blick auf ihn, und möglicherweise hat sie vieles auch nicht ganz verstanden, jedoch werden der Umgang, das Miteinander, die zwischenmenschlichen Sachen sehr lebendig und sind vielleicht auch die, die der Wahrheit am nächsten kommen.

Was Dostojewski und die Suslowa angeht, da liegst du sicherlich richtig mit deiner Einschätzung. Mir fällt erneut auf, dass Dostojewski in Sachen "Liebe" sehr befremdlich auf mich wirkt. Mir kommt es vor, als habe er immer das genommen, was sich ihm offenbart hat. Sobald sich ihm etwas eröffnet hat, was auch immer es gewesen sein mag, sofort hat er sich daran festgekrallt. Das Interesse der Suslowa hat er gepackt und nicht mehr losgelassen, bis ihr sozusagen die Luft wegblieb, die Witwe geheiratet, weil sie eben da war und er Mitleid hatte, Anna Grigorjewna ebenfalls nur darum einen Heiratsantrag gemacht, weil sie in sein Leben getreten und ihm Bewunderung entgegengebracht hat. Ich meine nicht so sehr, dass er sich darüber geschmeichelt gefühlt hat und sie darum heiratete, sondern dass er sich wohl irgendwo völlig den Umständen überlassen hat. So etwas wie Liebe im eigentlichen Sinne mag der Mann kaum gespürt haben und auch nicht erlebt. Immer war es eine Art Zwang, ein Packen des Gegebenen, besonders bei der Suslowa, dessen Interesse er wohl kaum fassen konnte und dann auch mächtig übertrieb - man denke an die Szene im Zug, wo er sich ihr vor die Füße wirft und dieser ganze Unsinn.
Dostojewski war ein Wesen, das sich völlig unterworfen hat, und das in allem, was ihm begegnete. Er erscheint mir nur wirklich ganz er selbst, wenn er geschrieben hat, als der einzige Ort, wo er wirklich wusste, was er wollte und auch sagte und tat, was er wollte. Das Werk war seine Art, sich ausleben zu können, was ihm im Leben völlig abging.




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zuletzt bearbeitet 09.10.2012 13:32 | nach oben springen
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#368

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 15:08
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

"Sobald sich ihm etwas eröffnet hat, was auch immer es gewesen sein mag, sofort hat er sich . . . "
Kann man absolut nicht anders sagen. Ganz klar wird es bei den Heiratsanträgen gegenüber Korwin-Krukowskaja und Iwanovna. Die kamen aus dem Nichts und völlig gegenstandslos. Er sit doch aber auch nie (außer seiner Mutter) geliebt worden. Gibt son Spruch. Wenn man nichts zu lieben hat, liebt das was man hat. Der passt. Da fällt mir wieder die Biografie von Rachmanowa ein. Die stellt auch die Reinsteigerung in seine "Lieben" nachvollziebar dar. Er selbst allein kam ja kaum in die Gelegenheit Kontakte zu Frauen entstehen zu lassen. So waren es immer von Frauen "von wo anders her" (ja selbst Snitkina)und da war es eben kein Zufall, dass er oft das drite Rad am Wagen war. Hat ihn nicht angehoben - wie Du schreibst: festgekrallt, Augen zu und durch. Was soll da rumkommen.
In Sachen Tagebücher Anna: Da liegst Du wohl richtig. Ein wenig trifft diese Einschätzung auch auf ihre Erinnerungen zu. Das sind tatsächlich die einzigen Aufzeichnungen, die ihn als Menschen überhaupt erscheinen lassen. Vielleicht hat das aber seinen Ursprung darin, dass nur Anna ihn als Menschen erlebt hat. Alle anderen haben ihn vielleicht nur als hirnrissigen, durchaus intelligenten, aber eben Kauz gesehen. Einmal habe noch irgendwo gelesen, dass er bei seiner Schwester in Lublino richtig positiv lebendig und aufgebüht gewesen sei. Die Beschreibung fiel richtig auf.

In sachen Liebe. Das Bedürfnis um sie wird um so dringender, da soziale Kontakte im allgemeinen schon unzulänglich oder gering sind. Das projeziert man dann vermtlich alles in s e i n e Liebe hinein. Und richtige Freund schien er auch nie gehabt zu haben. Auch sein Bruder Michail wird es nicht gewesen sein. Neulich las ich nochmals die Briefe Dostojewskis nach seiner Entlassung (bereits mit jenem Augenmerk) und es ist unzweifelhaft. Er war allein und einsam - ohne jede Einschränkung. Schwer bedauerlich. Man konnte auch aus diversen Briefen herauslesen, dass er Angst (im wahrsten Sinne des Wortes) hatte, dass es so bliebe. Du überlebst Omsk und stellst dann fest - du bist allein. Völlig allein. Das muss die Härte sein. War es dann wohl auch für ihn.


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#369

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 16:33
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Zitat von Jatman
Und richtige Freunde schien er auch nie gehabt zu haben. Auch sein Bruder Michail wird es nicht gewesen sein. Neulich las ich nochmals die Briefe Dostojewskis nach seiner Entlassung (bereits mit jenem Augenmerk) und es ist unzweifelhaft. Er war allein und einsam - ohne jede Einschränkung. Schwer bedauerlich. Man konnte auch aus diversen Briefen herauslesen, dass er Angst (im wahrsten Sinne des Wortes) hatte, dass es so bliebe. Du überlebst Omsk und stellst dann fest - du bist allein. Völlig allein. Das muss die Härte sein. War es dann wohl auch für ihn.



Die Briefe – ja, die sind ein guter Hinweis auf diese Einsamkeit. Dostojewski war ganz alleine, egal, wie viele Menschen um ihn herum waren. Im Leben war er im Grunde schon so, wie er später dann auf seinem Totenbett lag. Und in diesen Briefen dann der Bruder, der nicht antwortet, dem er sich nahezu als „gute Investition“ verkaufen, seine Qualitäten hervorheben muss, um eine erhoffte Antwort zu erhalten, die ausbleibt. Erinnert dann stark an seine vorangegangene Bitte an den Bruder, sich mit einem Viertel an der Veröffentlichung seines Buches zu beteiligen. So schien Dostojewski sich selbst zu sehen, als ewig Bittender und Bettelnder, der sich richtig präsentieren muss, um unterstützt zu werden. Da habe ich mich doch gefragt, ob dieses Verhalten alleine damit zusammen hängt, weil er gewohnt war, Schulden zu machen.

Das hast du schön formuliert, diese Angst davor, nach den Strapazen der Gefangenschaft wieder frei zu sein und feststellen zu müssen, dennoch alleine zu sein. Während der Verbannung waren seine Hilferufe ja nicht nur ein kläglicher Versuch, der Einsamkeit zu entkommen, sondern auch ein Appellieren an die menschlichen Gefühle (und muss man um solche eigentlich betteln???), die er in Sibirien vermisst hat, weil er sich dort von „Tieren“ umgeben fühlte, bis er nach und nach in ihnen das Menschliche entdeckte. Das aber eben auch eher notgedrungen, denn er hatte ja niemanden mehr, außerhalb Sibiriens, das hat er dann wohl nach all dem Schweigen auch allmählich eingesehen.

Diese Momente des Bettelns sind in den Briefen wirklich unerträglich, was durchaus ein etwas anderes Licht auf ihre Bruderbeziehung wirft. Nein, da war keine Freundschaft vorhanden, denn ein Freund (und auf jeden Fall ein Bruder, der ihn liebt) hätte ihn nicht in Sibirien hängengelassen, schon gar nicht nach dem Lesen solcher Briefe, die mit unzähligen „Um Gottes Willen“ gespickt waren.
Dennoch sind die Briefe zwischen den Brüdern vor der Gefangenschaft von herzlicher Natur und auch später zeigt Dostojewski wenigstens von sich aus, wie viel ihm der Bruder bedeutet hat und kümmert sich nach dessen Tod um seine Familie und seine Schulden. Schon eigenartig. Möglicherweise empfand Dostojewski Liebe nur im Sinne des Gebens und kämpfte mit dem Schuldgefühl seiner Schwächen, um diese verdoppelt wieder gutzumachen.
Dass er in diesem Sinne „devot“ war, masochistisch veranlagt, wie du es, glaube ich, irgendwann mal angedeutet hast, ist dann wohl auch richtig. Er war unterwürfig und gierig danach, sich selbst als Opfer und Büßer zu sehen. Dessen bin ich mir sicher.

Ein solcher Mensch, dieser Gefangene seiner selbst, der immer gewohnt war, um Anerkennung zu ringen, um Hilfe zu bitten, sich darüber sogar definiert hat, kann das wirkliche Gefühl „Liebe“ gar nicht erst entwickeln und ausleben. Er verachtet sich selbst, liebt sich nicht selbst und ist damit unfähig, auch andere Menschen zu lieben. Ein Teufelskreis, aus dem nur Erkenntnis hinausführt, eine Erkenntnis, die er leider nie hatte.
Schrecklich, sich vorzustellen, dass er diesen Taumel des Verliebtseins nie empfinden konnte, da er einfach nicht annehmen wollte, dass sich jemand für ihn als Menschen überhaupt interessieren könnte. Ich glaube, er hat niemals darüber nachgedacht, für ihn gab es keine Leidenschaften (außer im Werk oder in seiner Spielsucht) oder Entwicklungen über diesen eigenen Abgrund hinaus, denn er fühlte sich wohl in der Rolle, die er sich da selbst auferlegt hat. Sein Selbsthass oder vielmehr Schuldgefühl sich selbst gegenüber nahm alles ein und grenzte daraus alles aus, was ein echtes Gefühl war. Selbst wenn jemand Dostojewski echte Gefühle entgegengebracht hätte (was wohl nie der Fall war), so hätte er sie ganz einfach nicht wahrgenommen, da er sie ja sowieso als unmöglich vorausgesetzt hat. Aus diesem Grund hatte er wohl auch keine Scheu, sich den Menschen anzubiedern oder sie, wie wenig er sie auch immer kannte, um Hilfe anzugehen, da er sich sowieso als ewigen Sünder und Schuldigen betrachtete, der kein Recht auf Stolz hätte und damit dann das selbst zuerkannte Recht, sich als der zu präsentieren, von dem er annahm, dass ihn die Menschen so sahen. Der schwache Mensch, der ewig scheitert. Und mit dieser eigenen Einschätzung dann auch das Recht darauf, scheitern zu dürfen, schwach erscheinen zu dürfen ... usw.
Vielleicht ließ er auch darum keinen an sich heran, keinen Freund, keine Frau, selbst für Anna Grigorjewna öffnete er die Tür nur so weit, wie es notwendig war, um miteinander auszukommen, also im Großen und Ganzen … nur einen Spalt. Und das ist viel zu wenig, um ein wirkliches Gefühl empfinden zu können oder zu geben. Irgendwie erscheint es, als wäre alles für ihn nur eine Art "Ablauf". Ich stelle mir vor, dass es um Dostojewski herum ziemlich eisig und kalt gewesen sein muss. Da war ein Koloss an Mann und Mensch, der versteinert blieb, wie sehr man auch versuchte, sein Vertrauen zu gewinnen. Das muss, wie du sagst, weit in die Vergangenheit, in die Kindheit zurückreichen. Die Verbannung war nur ein weiterer Beweis für ihn, schuldig zu sein, eine Art Bestätigung, dass er dazu verdammt war, Leid auf sich nehmen zu müssen.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.10.2012 16:39 | nach oben springen
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#370

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 16:48
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

„(und auf jeden Fall ein Bruder, der ihn liebt) hätte ihn nicht in Sibirien hängengelassen . .“
Sehe ich auch als ein feines aber klares Detail. Selbst Jankowski (seine Arzt und Wegbegleiter vor der Verbannung, aber nie inniger Freund) besuchte ihn bereits in Twer. Das hätte sein Bruder locker drauf haben MÜSSEN. Andererseits war er ja ein Spriti. Vermutlich heftiger als es in allen Beschreibungen nur durchschimmert. Da bin ich wieder bei Ramanowa. Die hat als einzige glasklar als Alkoholiker dargestellt.
Die Schulden, die er unsinniger Weise von seinem Bruder übernommen hat, können aber auch in folgendes Schema passen. Wohl wissend, dass es so nicht wahr, will er eine Liebe der beiden Brüderherzen postum mit gnadenlosen Verlust beweisen. Vor Leid hatte er ja keine Angst. Seht her! Meine Liebe kennt keine Grenzen! Aber selbst das hat ihm wieder nichts gebracht. Es hat niemanden interessiert.

„Er verachtet sich selbst, liebt sich nicht selbst und ist damit unfähig, auch andere Menschen zu lieben.“ So haben wir mal kurz die Aufzeichnungen aus einem Kellerloch ;-)

„Das muss, wie du sagst, weit in die Vergangenheit, in die Kindheit zurückreichen. Die Verbannung war nur ein weiterer Beweis für ihn, schuldig zu sein, eine Art Bestätigung, dass er dazu verdammt war, Leid auf sich nehmen zu müssen.“
Beim Lesen dieser Deiner Sätze schoss mir nur ein Wort unzweifelhaft in den Kopf: Kafka.


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zuletzt bearbeitet 09.10.2012 19:01 | nach oben springen
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#371

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 19:02
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Zitat von Jatman
„Er verachtet sich selbst, liebt sich nicht selbst und ist damit unfähig, auch andere Menschen zu lieben.“ So haben wir mal kurz die Aufzeichnungen aus einem Kellerloch ;-)



Ja, da interpretiert man und interpretiert und rückt diesem Koloss doch nicht wesentlich näher. Müsste mal wieder etwas über ihn lesen.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.10.2012 19:04 | nach oben springen
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#372

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 19:10
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Zitat von Jatman
Die Schulden, die er unsinniger Weise von seinem Bruder übernommen hat, können aber auch in folgendes Schema passen. Wohl wissend, dass es so nicht wahr, will er eine Liebe der beiden Brüderherzen postum mit gnadenlosen Verlust beweisen. Vor Leid hatte er ja keine Angst. Seht her! Meine Liebe kennt keine Grenzen! Aber selbst das hat ihm wieder nichts gebracht. Es hat niemanden interessiert.


Dann gehst du davon aus, dass er das aus Berechnung gemacht hat, damit es ihm etwas "bringt"? Dass er damit als besserer Mensch dasteht?
Ich glaube, er hat da gar nicht groß nachgedacht und die Schulden einfach auf sich genommen. Und die Familie blieb ja eben Familie. Für ihn war das doch wichtiger, als für seinen Bruder ihm gegenüber.
Und der war ein Alkoholiker? Interessanter Aspekt und eigentlich so gesehen dann auch ein Hinweis auf sein Verhalten während der Verbannung Dostojewskis.

P.S. Literatur der Djuragin über Dostojewski ist im Augenblick kaum zu bekommen und wenn dann in einem Band und der andere fehlt. Allerdings habe ich ihre Tagebücher in einem Band gefunden. Die würden mich wiederum auch interessieren.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.10.2012 19:17 | nach oben springen
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#373

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 19:37
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Ja und Nein. Er will nicht anderen gegenüber besser dastehen. Sondern gegenüber sich selbst. Um sich nicht einzugestehen, dass die Beziehung ebenso geschwächelt hat wie andere vermeintliche. So in der Form: Wenn ich rückhaltlos seine Schulden übernehme müssen wir uns ja gegenseitig sehr geliebt haben.

Ja der Bruder war Alkoholiker. Er ist an Leberzirrhose gestorben. Dass er gern und viel getrunken hat findet man öfter, meint aber sicherlich, dass es pietätöos wäre ihn alkoholabhängig zu bezeichnen. Der Redaktionsraum von Epoche und Zeit, war ein von außen zugänglicher Raum, der Wohnung von Michails Familie. Die letzten Tage und Wochen erschien er nicht einmal. Es wird massiv abgebaut haben.

Djuragin > Beide Bände zu einem guten Preis zu bekommen ist immer schwierig gewesen. Hat bei mir auch ein Weile gedauert, bis ich beide hatte. Und die Tagebücher, die dürften doch einfach nicht belanglos sein. Früher oder später werde ich sie auch gelesen haben. Neugierig bin ich jedenfalls drauf.


www.dostojewski.eu
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#374

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 19:48
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Ach übrigens. Um Dein Dostojewskibild tut es mir sehr leid. Wo voll im Ernst sein tut. Die jetzige Startseite ist ja eine profane Sache, passt aber einfach besser ins Konzept. Ich habe es jetzt hier untergebracht. Da passt und gehört es hin. Klingt zwar paradox, aber ich finde es sehr schade, dass es "nach hinten" gerückt ist.


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#375

RE: Dostojewski

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2012 21:01
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Gerade gelesen. An dem Satz bin ich hängen geblieben. Er fasziniert mich, kann ihn aber nicht fassen. Ist es denn zu fassen?!
"Großinquisitor zu sein ist des Menschen, wie irren menschlich ist."
in Grigorij Pommeranz Euklidische und nichteuklidische Vernunft

Was mach ich jetzt meit dem Satz

Wer hat was im Angebot?!


www.dostojewski.eu
zuletzt bearbeitet 09.10.2012 21:19 | nach oben springen
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